Mein Beitrag „Das narzisstische Dilemma im Unternehmen“ ist auf großes Interesse gestoßen. Viele Zugriffe und viele Likes zeigen das. Einige Kommentare bestätigen, dass die gemachten Beobachtungen durchaus zutreffend sind. In der Analyse gehen also viele mit, aber es scheint Zweifel an der Transformierbarkeit der Unternehmen zu geben. Einige Leser glauben nicht so richtig daran, dass diese Transformation („Change“ ist mir hier zu wenig, heute ist ja irgendwie alles „Change“) gelingen kann. Die Frage ist also: Wie geht man es an? Und auf welche Art und Weise kann die Transformation gestaltet werden?
Abbildung 1: Ausweg aus dem narzisstischen Dilemma
Der New-Work-Mitstreiter Guido Bosbach hat in seinem Beitrag „Die Ausweglosigkeit narzisstischer Unternehmen“ bereits einige Aspekte zur Umsetzung beleuchtet. In meinem Beitrag möchte ich auf zwei wesentliche Dimensionen für die erfolgreiche Gestaltung neuer Führung eingehen. Zum einen ist dies die individuelle Dimension, in der es um Haltung, Glaubenssätze, Verhalten oder Kompetenzen jedes Einzelnen geht. Zum anderen die organisationale Dimension in Form von Führung, Team, Strukturen, Kultur, Organisation. Das Zusammenspiel der beiden Dimensionen ist entscheidend: Die individuelle Dimension umfasst das Wollen und Können, die organisationale Dimension das Dürfen und Sollen.
Die individuelle Ebene – Ganzheit entwickelt Potenziale
Das narzisstische Dilemma spielt natürlich zuerst auf individueller Ebene eine Rolle. Wie schon ausgeführt, ist ein erfüllter Narzissmus (gesunde Selbstliebe, Selbstwertschätzung) eine wichtige Voraussetzung für ein gesundes Unternehmen. Beziehungen werden ziemlich schnell gestört, wenn auf einer der beiden Seiten defizitärer Narzissmus („Ich bin nichts wert!“) oder exhibitionistischer Narzissmus („Ich bin etwas Besonders!“) gegeben ist. Hier kann keine Augenhöhe entstehen – eine meiner Kernforderungen für menschenzentrierte Organisationen („New Work“, s.u.).
Wenn wir also über eine Alternative und einen Weg dahin nachdenken, dann darf die persönliche Entwicklung jedes Einzelnen nicht außer Acht gelassen werden. Allerdings liegen wir einem Irrtum auf, wenn wir glauben, dass es möglich oder sinnvoll wäre, Menschen zu entwickeln. Der Begriff „Personalentwicklung“ setzt deshalb eigentlich auch einen völlig falschen Fokus. Menschen kann man nicht entwickeln, man kann nur ein Umfeld gestalten, das den Menschen entsprechende Möglichkeiten gibt und passende Anreize bietet. Damit sind aber bitte nicht Boni gemeint, sondern z.B. Möglichkeiten, sich in einem angstfreien Umfeld ausprobieren zu können und auch Fehler machen zu dürfen – und zwar ganz ausdrücklich auch den gleichen Fehler mehrfach, wenn es sein muss (wobei es so etwas wie „den gleichen Fehler“ ja eigentlich gar nicht gibt).
Ausgehend vom narzisstischen Dilemma (Narzissmus hilft, schadet aber auch) müssen Menschen in Organisationen auf individueller Ebene in ihrer persönlichen Entwicklung so gut wie möglich unterstützt werden. Das beginnt bei Angeboten zur Persönlichkeitsentwicklung oder besser vorher noch der „Persönlichkeitsentdeckung“ (Wer bin ich und wenn ja, wie viele?). Nur wer sich als Person und Persönlichkeit möglichst ganzheitlich einbringen kann, wird auch glücklich und erfolgreich sein. Frederic Laloux hat das in Reinventing Organizations mit „Wholeness“ (in der deutschen Ausgabe übersetzt mit „Ganzheit„) bezeichnet. Damit meint er die Überwindung der Trennung zwischen Ego und Selbst, zwischen dem Berufs-Ich und dem privaten Ich, zwischen Natur und Menschheit. In den von ihm als Teal Organizations (petrol-farbene Organisationen) haben Menschen die Möglichkeit, sich als Mensch zu zeigen, mit all ihren Stärken und Schwächen. Sie können ihre berufliche Maske ablegen und somit auch alle ihre Potenziale entwickeln. Klingt das zu idealistisch? Ja, vielleicht schon! Aber Laloux hat einige Beispiele von Unternehmen gesammelt, in denen das schon recht gut umgesetzt wird. Das zeigt, dass es möglich ist.
Wichtig ist nur, was wir glauben
Somit kommt der Unterstützung und Hilfestellung bei der persönlichen Reifung eine große Bedeutung bei der Transformation von Unternehmen zu. Es wäre aber eine Illusion zu glauben, dass Unternehmen „von heute auf morgen“ nur einen Schalter umlegen müssten und ein neues Betriebssystem installieren könnten. Menschen, die über Jahre oder Jahrzehnte gewohnt waren, nach „Command-And-Control“ zu funktionieren, fangen nicht sofort an, Verantwortung zu übernehmen und Vertrauen zu zeigen. Das Prinzip Misstrauen und das darunter liegende Menschenbild (nach Douglas McGregor Theorie X) ist in vielen Glaubenssätzen tief verwurzelt und in der Kultur dieser Unternehmens verankert.
Nach der ABC-Theorie (Albert Ellis, 1913, Rational-Emotive Verhaltenstherapie) der Verhaltensforschung werden alle aktivierenden Ereignisse (A=Activating Event) mit Hilfe unserer Glaubenssätze und Überzeugungen (B=Beliefs) bewertet und interpretiert. Diesem folgt erst im dritten Schritt eine Reaktion (C=Consequences). Es gilt also, an den Glaubenssätzen zu arbeiten. Also und Überzeugungen in der Unternehmenskultur aufzudecken und diese letztlich auf individueller Ebene zu verändern. Schon lange gibt es ein reiches Repertoire an Methoden, um irrationale Überzeugungen und unangemessene Reaktionen in Frage zu stellen und kognitiv umzuprogrammieren. Neuro-linguistisches Programmieren (NLP) stellt hier nur eine Möglichkeit dar. Aber auch hier gilt: Es geht!
Somit wird klar, dass den personalen Kompetenzen in unserem VUCA-Umfeld (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) eine viel höhere Bedeutung zukommt als den fachlichen. Je weniger wir wissen, vorhersagen und analysieren können, desto wichtiger wird der Umgang mit dieser Unsicherheit. Wenn das A (Activating Event) also immer weniger vorhersehbar und beeinflussbar wird, dann müssen wir am B (Belief) arbeiten und entsprechende Kompetenzen aufbauen. Modernes HR sollte das bei der Gestaltung von Weiterbildung dringend berücksichtigen!
Zwischenfazit
Die individuelle Ebene wird durch das Wollen (Basismotivation, Willenskraft, Antrieb, Engagement) und das Können (Haltung, Verhaltensrepertoire, Kompetenzen, Wissen) bestimmt. Zugrunde liegen dem aber unsere Glaubenssätze, also das Menschenbild. Das wird individuell bestimmt und kulturell über Normen und Werte verankert.
Im narzisstischen Unternehmen geht es dagegen oft nur darum, sich gegen andere durchzusetzen, im Wettbewerb zu bestehen, unfehlbar zu sein oder einfach nur gut auszusehen (auch optisch). All diese Prägungen stehen einer offenen, ganzheitlichen und menschenzentrierten Sicht entgegen. Die notwendigen Vertrauensräume, die es braucht, um in einer komplexen und ungewissen Welt Neues zu wagen, sind im narzisstischen Unternehmen nicht möglich.
Ohne Vertrauensräume entsteht letztendlich auch keine Innovation und wir müssen uns um die Zukunft der deutschen Industrie (trotz oder vielleicht wegen „Industrie 4.0“) Sorgen machen. Die Automobilindustrie mit ihren Flaggschiffen Daimler, BMW und Volkswagen scheint gegen die Schnellboote Tesla und Google schlecht auszusehen.
Die organisationale Ebene – Möglichkeit schafft Entwicklung
Die zweite Dimension zur Überwindung des narzisstischen Dilemmas ist für mich deshalb die Organisation, also die Frage, wie Unternehmen gestaltet werden müssen, damit die Verstärkung narzisstischer Tendenzen vermieden werden. Um in der obigen Unterscheidung zu bleiben, nenne ich das „Dürfen“ und „Sollen“ – man kann somit auch von einem Raum der Möglichkeiten sprechen.
In dem oben schon erwähnten Beitrag „Das narzisstische Dilemma im Unternehmen“ hatte ich bereits drei Treiber genannt, die früher oder später zum Zusammenbruch narzisstischer Organisationen führen werden (Transparenz, Vernetzung, Augenhöhe) – was aber nicht heißt, dass man sich jetzt zurücklehnen und darauf warten darf. Der Wandel ist nicht aufzuhalten, davon bin ich überzeugt. Aber wenn wir aktiv mitarbeiten, geht es schneller und wir können den Wandel aktiv gestalten, statt Spielball zu sein. Insbesondere für narzisstische Organisationen wird ein Umdenken und Handeln wichtig für ihre Überlebensfähigkeit sein! Dazu stelle ich die folgenden Thesen zur Diskussion:
1. Transparenz wird für eine Machtverschiebung sorgen
Das Internet und die Informationstechnologie sorgt für radikale Transparenz – ob wir das wollen oder nicht. Was im gesellschaftlichen Kontext zu politischen Verschiebungen führen wird, ist auch im Unternehmenskontext nicht zu vernachlässigen. Die Möglichkeiten von Transparenz sollten aber im Unternehmen als Chance und nicht als Bedrohung verstanden werden. Möglichst weitgehende Offenlegung der wirtschaftlichen Situation (incl. Gehälter), Strategien, Geschäftschancen und vieler weiterer relevanter Informationen sind umso wichtiger, je weniger exakt einzelne Schritte vorausgeplant werden können. In dem Moment, wo mehr Selbstführung gefragt ist, muss auch mehr Transparenz gegeben werden.
Bei Semco (Ricardo Semler ist einer der Vorzeige-Unternehmer von New Work) gibt es ein schönes Beispiel, wie Transparenz zu einfachen Lösungen führt. Für die Reisekosten gibt es dort keinerlei Vorgaben oder Budgets. Jeder darf jede Reise selbständig buchen – mit der einzigen Regel, dass die Reisekostenabrechnung im Intranet veröffentlicht wird. Das ist um vieles effizienter als seitenlange Reisekostenregelungen!
Das wird jedoch zwangsläufig auch zu einer Veränderung der Führungsstrukturen und zur Demokratisierung von Unternehmen führen. Vorab definierte Hierarchien werden durch dynamische Netzwerkstrukturen abgelöst, in denen sich Führung als dynamischer sozialer Prozess herausbildet. Führungsverantwortung wird aber nur dann situativ übernommen durch selbstgesteuerte Abläufe, wenn jeder weiß, worum es geht.
Die Grundprinzipien dieser situativen Führung auf Zeit sollten aber festgeschrieben werden, damit niemand den narzisstischen Verlockungen erliegt und ohne Gesichtsverlust wieder von der Führungsaufgabe zurücktreten kann. Haufe umantis hat dies bespielsweise durch die demokratische Wahl der Führungskräfte verankert.
Zur Vertiefung der Grundidee von Unternehmensdemokratie mit vielen ermutigenden Beispielen möchte ich die kürzlich erschienenen Bücher von Dr. Andreas Zeuch (Quelle 7) und Thomas Sattelberger (Quelle 8) empfehlen.
2. Vernetzung wird schnelle Machtwechsel erlauben
Die digitale Transformation schafft bei konsequenter Nutzung der Möglichkeiten eine neue Plattform für Unternehmen, die sich durch Transparenz und Vernetzung auszeichnet. Die oben erwähnte Transparenz wird durch neue, IT-gestützte, Unternehmens-Betriebssysteme ermöglicht. Dazu gehören z.B. Entscheidungsverfahren wie Systemisches Konsensieren oder Konsultativer Einzelentscheid, die durch entsprechende Software schnell und einfach genutzt werden können. Diese Tools sind eine Voraussetzung für transparente Führung auf Zeit.
Des weiteren schafft die digitale Transformation die Möglichkeit, (fast) jeden Job zumindest teilweise von einem beliebigen Ort zu einer beliebigen Zeit zu machen. Die Frage nach den Grenzen von Unternehmen stellt sich neu und es werden dadurch auch völlig neue Arbeits- und Kooperationsformen entstehen. Die Führung muss sich dieser Situation anpassen und als eine ihrer Hauptaufgaben die Bindung über Identifikation und Sinn anbieten statt über Arbeitsverträge.
3. Führung auf Augenhöhe ist als partnerschaftliche Austauschbeziehung zu verstehen
Somit entfallen die meisten bisherigen Legitimationen für Führung: Informations- und Wissensvorsprung wird durch Transparenz ausgeglichen. der exponentielle Wissenszuwachs sorgt dafür, dass Experten mehr wissen als Führungskräfte und sowieso selbst am besten entscheiden können, was wie zu tun ist.
Was bleibt dann also als Aufgabe der Führung übrig? Es ist die soziale Rolle, das Aufbauen und Zusammenhalten von sozialen Strukturen, das Orchestrieren und behutsame Gestalten eines echten Teams. Ich wähle dafür gerne die Rollenbezeichnung „Organisationsarchitekt“, weil das in der Analogie zum Architekten eines Hauses klar macht, dass die Führung geeignete organisatorische Räume bereitstellt, in denen man sich wohl fühlt und gerne arbeitet. Dies lässt Potenziale entwickeln und sorgt für nachhaltige Leistung.
Fazit
Die individuelle und die organisationale Dimension zur Überwindung des narzisstischen Dilemmas müssen immer im Kontext betrachtet werden. Beide Dimensionen stehen in systemischem Zusammenhang, die Transformation eines Unternehmens muss balanciert in beide Richtungen erfolgen. Menschen brauchen Zeit und Hilfestellung, um Neues zu lernen und Altes zu verlernen. Und sie brauchen Möglichkeitsräume, in denen sie neue Optionen ausprobieren können. Das hat viel mit einem neuen Verständnis von Führung zu tun, das sich durch Transparenz, Vernetzung und Augenhöhe auszeichnet.