Das narzisstische Dilemma ist ein psychologischer Fachbegriff, der die Ambivalenz narzisstischer Eigenschaft bezeichnet. Dieses Dilemma habe ich bereits vor Kurzem in einem Beitrag erläutert. Dabei werden drei Qualitäten unterschieden:
- Erfüllter Narzissmus: mittlere Ausprägungen z.B. in Form einer gesunden Selbstliebe, gesunden Beziehungen auf Augenhöhe und hoher Empathie.
- Exhibitionistischer Narzissmus: extrem hohe Ausprägungen z.B. in Form von übertriebener Selbstdarstellung, eingeschränkter Selbstregulation und geringer Empathie; wird als Größenselbst bezeichnet.
- Defizitärer Narzissmus: extrem niedrige Ausprägung z.B. in Form von Minderwertigkeitskomplexen, Kontaktschwierigkeiten und fehlender Abgrenzung; wird als Größenklein bezeichnet.
Abbildung 1: New Work | Impossible & Possible
In narzisstischen Organisationen treffen dann Größenselbsts und Größenkleins aufeinander und gehen eine Beziehung in Ko-Abhängigkeit ein. Im bereits erwähnten Beitrag habe ich versucht, dieses Phänomen von der individuellen Ebene auf die organisationale Ebene zu heben und in einem zweiten Beitrag Konzepte aus „New Work“ („Neue Arbeitswelt“) als möglichen Lösungsansatz betrachtet.
Die Frage ist und bleibt aber: Wenn das alles so klar ist – und viele Kommentare geben mir in meiner Analyse recht – warum ist es dann trotzdem so schwer, in narzisstischen Unternehmenskulturen Veränderungen voranzubringen? Und was könnte man tun, um diese Blockaden aufzulösen?
Für alle möglichen Erklärungsansätze scheint mir eine banale Erkenntnis wichtig: Jeder ist anders! Und weil Menschen so unterschiedlich sind, sind auch ihre Motive und Beweggründe unterschiedlich (oder umgekehrt). Zwei Fragen ergeben sich da sofort, die ich auch gleich beantworten will:
- Warum ist das wichtig?Weil alle Konzepte für die Umsetzung bei genau diesen unterschiedlichen Basiswerten anfangen müssen, um eine Veränderung zu bewirken, um also Motivation aufzubauen. John P. Kotter bezeichnet diesen ersten Schritt als „Sense of Urgency„, es muss also ein Gefühl der Dringlichkeit vorhanden sein. „Man müsste mal…“ hat noch nie eine Handlung ausgelöst! Diese Dringlichkeit entsteht dabei entweder aus einer Not bzw. Bedrohung heraus (Schmerzvermeidung, „Weg-Von-Ziele“, „Bedrohungen“, „Killing the Dragon“) oder aus einer positiven und attraktiven Zielvorstellung heraus (Lustsuche, „Hin-Zu-Ziele“, „Chancen“, „Winning the Prince/Princess“) oder einer Kombination von Beidem. Und jeder hat andere Drachen oder PrinzESSINNen.
- Und warum hilft das trotzdem noch nicht weiter?
- Weil man nicht 7,3 Milliarden verschiedene Konzepte mit individuellen Argumentationen aufbauen kann bzw. in einem Unternehmen jeder einzelnen individuellen Interessenslage wirklich gerecht werden kann. Deshalb lohnt sich aus meiner Sicht der Blick in die Werkzeugkiste der Psychologie, genauer in den Bereich der Persönlichkeitstypologie und -diagnostik. Dort werden Kategorisierungen vorgenommen, die nach meiner Meinung hilfreich sind in diesem Zusammenhang.
Was ist Persönlichkeit?
Mit der Aussage „Das ist aber eine Persönlichkeit“ verbinden wir das Bild eines Menschen, der meist besonders augenfällige, meist positive Eigenschaften aufweist. Wir meinen damit also jemanden, der sich durch die Art und Weise, wie er sich seinem Umfeld gegenüber verhält, auffällt. Eine exakte Definition des Begriffs „Persönlichkeit“ ist dann aber gar nicht so einfach und auch unter Psychologen nicht abschließend geklärt. Für den Zweck dieses Beitrags soll gelten: „Persönlichkeit ist die Gesamtheit aller Eigenschaften und Verhaltensweisen eines Individuums, die die Anpassung und Interaktion mit der Umwelt bestimmt.“
Kurze Geschichte der Persönlichkeitstypologie
Schon im Altertum hat man in der Astronomie bzw. Astroanalyse versucht, bestimmte Klassifizierungen (Tierkreiszeichen) vorzunehmen und daraus Charaktereigenschaften und typische Verhaltensweisen abzuleiten.
Später hat Hippokrates (406-377 v. Chr.) seine Typologie aus den vier Körperflüssigkeiten abgeleitet und die folgenden Grundtypen („Temperamente“) definiert:
- – Choleriker (gelbe Galle): Missmut, Unzufriedenheit, Aggression
- – Sanguiniker (Blut): Optimistische Grundstimmung, frohes Naturell, Heiterkeit
- – Phlegmatiker (Schleim): Geringer Ehrgeiz, ruhiges Gemüt, Gutmütigkeit, Harmonie
- – Melancholiker (schwarze Galle): Minderwertigkeit, Unsicherheit, Schicksalsfurcht, Ordnungsliebe, Ruhe
C.G. Jung (1875-1961, um gleich einen Sprung von über 2000 Jahren zu machen) baut seine Theorie der Charaktertypen auf zwei Konzepte auf: Einstellungstyp (extravertiert oder introvertiert) und Funktionstyp (Denken, Fühlen, Empfinden, Intuieren). Aus der Kombination von Einstellungs- und Funktionstyp ergeben sich dann acht Variationsmöglichkeiten, z.B. der introvertierte Denker.
Das INSIGHTS-MDI® Verfahren
Das Modell (INSGHTS MDI®), das nun für diesen Beitrag verwendet werden soll, setzt auf den Erkenntnissen von C.G. Jung auf, reduziert das Modell aber auf zwei Dimensionen:
- 1. Extraversion vs. Introversion
- 2. Menschenorientiert vs. Sachorientiert
Aus der Kombination dieser zwei Dimensionen werden dann wiederum vier Basistypen gebildet, die jeweils durch Farben symbolisiert werden:
- D=Dominant (Extraversion + Sachorientiert), ROT
- I=Initiativ (Extraversion + Menschenorientiert), GELB
- S=Stetig (Introversion + Menschenorientiert), GRÜN
- G=Gewissenhaft (Introversion + Sachorientiert), BLAU
Über einen Fragebogen mit 24 x 4 Begriffen, die in eine Reihe gebracht werden müssen, wird die Ausprägung in den vier Basistypen ermittelt. Dadurch lassen sich insgesamt 60 Verhaltensschemata ableiten. Wichtig ist nun hierbei, dass sich aus dem Ergebnis Rückschlüsse auf präferierte Verhaltensweisen im Umgang mit der Umwelt ziehen lassen.
Für diesen Beitrag möchte ich mich im Weiteren aber auf die vier Basistypen beschränken, um den Rahmen nicht zu sprengen. Dadurch wird die Betrachtung dann leider doch etwas schematisch und undifferenziert, aber das muss ich in Kauf nehmen.
Die vier Basistypen und wie man sie bewegt
Im Folgenden stelle ich die vier Basistypen (D, I, S, G) kurz dar und beschreibe anschließend, welche Antreiber zur Veränderung diese Basistypen benötigen. Beim Lesen können Sie sich schon mal selber fragen, wie Sie sich einschätzen. Oder versuchen Sie mal Ihren Chef oder Ihre Chefin einzuordnen und verkaufen Sie ihm/ihr Ihre neueste Idee in der passenden Art und Weise.
Ich werde im Folgenden aus Gründen der Einfachheit immer die männliche Form verwenden, bitte stören Sie sich nicht daran.
(I) Der Gelbe – Redner und Visionär
Der Gelbe ist der extravertierte Fühler. Er möchte viele Beziehungen aufbauen und Kontakt-Netzwerke knüpfen, die er aktiv sucht (das „I“ steht für Initiativ). Ihm geht es dabei vor allem um Einfluss, er strebt nach gesellschaftlicher Anerkennung, zeigt gerne Gefühle, ist fröhlich und positiv, verzettelt sich aber auch des Öfteren. Er sucht den Kontakt mit vielen Menschen und hat ein großes Netzwerk. Er fragt vor allem „Wer?“. Er kommuniziert emotional und lebendig, sein Kommunikationsstil ist eher „verkäuferisch“ und er kann begeistern. Er fürchtet jedoch persönliche Ablehnung und Isolation, Kritik nimmt er leicht persönlich.
Er ist in seiner Ausrichtung menschenorientiert und aktiv, baut schnell Beziehungen auf, verliert aber oft auch schnell das Interesse, wenn Dinge nicht vorangehen oder die Abwechslung fehlt.
(S) Der Grüne – Vertrauens- und Familienmensch
Der Grüne ist der introvertierte Fühler. Er ist ein Beziehungsmensch und hat eher wenige, aber sehr gute Freunde. Er kann sehr gut zuhören und sich in andere hineinversetzen. Mitgefühl ist seine Stärke – er ist wohl der Erfinder der Empathie, hat aber manchmal Probleme, sich abzugrenzen und leidet auch mit. Er hat einen langen Atem und zeichnet sich durch Beharrlichkeit und Stetigkeit (das „S“) aus. Er lässt sich durch Sicherheit und Stabilität motivieren, Unsicherheit, schnelle Veränderungen und Überraschungen fürchtet er. Er fragt häufig „Warum?“. Er kommuniziert eher zuhörend und spricht bedächtig, aber tiefschürfend.
Er ist in seiner Ausrichtung menschenorientiert und passiv, er baut Beziehungen eher langsam und vorsichtig auf und ist ein Teamplayer.
(G) Der Blaue – Detailist und Denker
Der Blaue ist der introvertierte Denker. Er ist ein Mensch von Zahlen, Daten und Fakten. Das „G“ steht für gewissenhaft, ihm geht es dabei vor allem um Präzision und Systematik, er neigt zum Perfektionismus. Vor allem anderen sind ihm standardisierte Vorgehensweisen wichtig. Er wirkt distanziert und unfreundlich, er braucht eigentlich keine persönlichen Kontakte. Er entscheidet nur auf Basis von Fakten und nach sorgfältiger Untersuchung aller Aspekte. Er fragt vor allem „Wie“, dabei interessiert er sich sehr für Regeln. Dadurch lassen sich Konflikte vermeiden, die er fürchtet. Er ist darauf bedacht, die Dinge in Ordnung und unter Kontrolle zu halten.
Der Blaue ist sachorientiert und passiv, Beziehungen sind für ihn schwierig, da sie seine Welt in Unordnung bringen und unplanbar sind. Er schätzt es eher, alleine zu arbeiten.
(D) Der Rote – Macher und Kämpfer
Der Rote ist der extravertierte Denker. Er geht Probleme und Schwierigkeiten zielorientiert an und sucht die schnellste Lösung. Das „D“ steht für Dominanz, er strebt nach Macht. Er zeigt wenig Gefühle, höchstens Ärger und Unmut, wenn es nicht schnell genug geht oder wenn er nicht die Kontrolle hat. Er wird motiviert durch schwierige und herausfordernde Situationen. Er fragt vor allem „Was?“, also beispielsweise „Was steht an?“. Er kommuniziert direkt und anweisend. Er fürchtet Versagen und Machtverlust.
Er ist in seiner Ausrichtung also sachorientiert und aktiv, schnell, direkt, dabei weniger menschenorientiert. Beziehungen sind „Mittel zum Zweck“ und nur unter funktionalen Aspekten wichtig – nämlich, um Ziele zu erreichen.
…bitte fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker
Noch ein wichtiger Hinweis: Die oben geschilderten reinen Basistypen sind eher selten. Wesentlich häufiger haben Menschen Profile, die eine bunte Mischung verschiedener Verhaltenspräferenzen in unterschiedlicher Ausprägung sind. Wenn Sie sich eingeordnet haben, dann werden Sie deshalb vielleicht festgestellt haben, dass Sie aus mehreren Bereichen Eigenschaften bei sich finden. Zudem zeigen Menschen auch immer Anpassungsverhalten, so dass Sie neben Ihrem natürlichen Stil auch einen angepassten Stil haben. Oft sind wir privat eher natürlich und passen uns im Beruf mehr oder weniger an, um erfolgreicher zu sein.
Die Verhaltenstypen in New Work
Die spannende Frage ist nun, wie man den einzelnen Basistypen New Work schmackhaft machen könnte, wenn man das will oder muss. Für mich ist der Rote eigentlich der größte Gegner von New Work. Er ist wahrscheinlich mit dem Blauen zusammen der Erfinder des Taylorismus. Denn er hat ja die beste Lösung und die Welt würde wunderbar funktionieren, wenn nur alle auf ihn hören würden. Mit dem Blauen hat er sich verbrüdert, denn den braucht er für den Entwurf der Pläne und die Ausführung der Kontrolle.
Unter den Roten wird es dann wohl auch die meisten (exhibitionistischen) Narzissten geben (obwohl es dazu meines Wissens nach noch keine Studien gibt). Empathie als Gegengewicht zum Narzissmus würde dann wohl vor allem durch die Grünen mit Unterstützung der Gelben eingebracht, also den eher menschenorientierten Typen. Gelbe und Grüne sind dann auch eher schnell für New Work zu begeistern, vor allem wenn es um informelle Beziehungsaspekte wie Wertschätzung, Empathie und Teamwork geht.
New Work – typgerecht dargestellt
- Für den Gelben:
New Work gibt Dir die Möglichkeit, viele neue Kontakte zu knüpfen. Beziehungen sind das wichtigste Kapital in New Work, wir brauchen dort Netzwerker und begeisterungsfähige Menschen wie Dich! - Für den Grünen:
Kommunikation auf Augenhöhe, stabile und achtsame Beziehungen sind das A und O von New Work. Die New Work Konzepte von Unternehmensdemokratie führen zu Partizipation. Serviceorientierung, Empathie und echtes Interesse für Menschen sind wichtige Komponenten. - Für den Blauen:
New Work erfordert für die Steuerung komplexer Systeme eine Vielzahl von Daten und Fakten. Genauso ist Präzision und Qualität wichtig. Zudem müssen grundlegende Prinzipien für die effiziente Zusammenarbeit definiert werden. - Für den Roten:
New Work Unternehmen benötigen natürlich auch Menschen, die Dinge voranbringen und sich von Schwierigkeiten nicht abhalten lassen. Es geht um Agilität und darum, immer wieder Neues auszuprobieren und auch Risiken einzugehen. Die Roten müssen allerdings lernen, dass der Aufbau von hierarchischen Machtstrukturen in einer VUCA-Welt sicherlich nicht mehr zeitgemäß ist. Wir brauchen anpassungsfähige, integrative und diversifizierte Organisationen, die Ihre Stärke durch den Verzicht auf formale Macht und situative Führung entfalten. Verzicht ist Stärke!
Fazit
Wir können zwar hoffen, dass irgendwann in der Unternehmenswelt die Einsicht greift, dass wir mit den heutigen Steuerungsmethoden im Unternehmen nicht mehr weiterkommen (Quelle 6). Aber wir können auch anfangen, die Konzepte neuer, menschenzentrierter Unternehmen den jeweiligen Persönlichkeitstypen „artgerecht“ zu verkaufen. Am Ende ist aber auch wichtig, dass in einer komplexen Welt nur Organisationen eine Chance haben, die äußere Komplexität nicht einfach reduzieren, sondern innere Diversität dagegen setzen (Ashby’s Law). Und das gelingt durch eine geeignete Mischung verschiedener Verhaltenspräferenzen. Für New Work brauchen wir alle!
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