Dieser Artikel bildet den Auftakt einer mehrteiligen Serie: Zunächst betrachten wir Führungskräfte, die erste Schritte in verteilter Führung unternehmen. Im folgenden Artikel kommen Mitarbeitende zu Wort, bevor abschließend die Geschäftsführung ihre Perspektive einbringt. Dadurch entsteht ein umfassendes Bild, wie sich eine zukunftsgerichtete, verantwortungsbasierte Führungsform in Organisationen etablieren lässt.
Weshalb geteilte Führung „light“?
Verteilte Führung gilt vielen als moderne Antwort auf die Grenzen klassischer Hierarchien: Sie steht für Eigenverantwortung, Transparenz und Schwarmintelligenz. Doch der Sprung in ein vollumfassendes Modell der „Selbstorganisation“ oder der „kollegialen Führung“ ist für viele Organisationen groß. „Verteilte Führung light“ bietet einen schrittweisen und praktikablen Einstieg: Es geht nicht um ein radikales Umkrempeln, sondern um ein Einstiegsmodell mit klar erkennbaren Effekten – überschaubare, erprobte Schritte, die Vertrauen schaffen und Leistung erhalten.
Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigen zwei sehr unterschiedliche Beispiele.
Praxisbeispiel 1: Sarah – die Strategin im MedTech-Start-up
Sarah, 38, leitet einen Geschäftsbereich in einem stark wachsenden Start-up der Medizintechnik. Sie gilt als strategisch stark, leistungsorientiert, effizient. Lange Zeit lief alles über ihren Tisch: Entscheidungen, Abstimmungen, Priorisierungen. Das führte zu Verzögerungen und Überlastung – sowohl bei ihr selbst als auch bei den Teamleads. Die Folge: Frustration im Team, das Gefühl, ständig auf Freigaben warten zu müssen, und eine schleichende Demotivation.
Ihr Ausweg: erste Schritte in verteilte Führung.
- Klare Verantwortungsbereiche: Ihre Teamleiterin für Marketing entscheidet nun eigenständig über Kampagnenbudgets bis 20.000 €, während der Produktmanager die Verantwortung für Priorisierungen im Backlog übernommen hat.
- Rotierende Meetingmoderation: In der wöchentlichen Teamrunde moderiert jede*r reihum. Beispielsweise übernahm ein neuer Kollege die Moderation nach nur zwei Monaten – so konnte er früh sichtbar Verantwortung übernehmen.
- Konsent-Verfahren: Als es um die Einführung eines neuen CRM-Tools ging, nutzte Sarah erstmals den Konsent. Ein Teammitglied hatte Bedenken wegen der Schnittstelle zur bestehenden Software – diese wurden aufgenommen und gelöst, ohne den gesamten Prozess zu blockieren.
Der Weg war nicht frei von Unsicherheiten. Gerade zu Beginn fragten sich viele: „Darf ich das wirklich entscheiden?“ oder „Was, wenn ich falsch liege?“. Indem Sarah konsequent unterstützende Fragen stellte: z.B. „Was brauchst du dafür, um sicher entscheiden zu können?“ und Entscheidungen nachträglich gemeinsam mit der Mitarbeiterin reflektierte und nicht korrigierte, wuchs die Sicherheit Schritt für Schritt. Nach sechs Monaten waren operative Entscheidungen weitgehend dezentralisiert. Sarah war spürbar entlastet und konnte sich stärker auf die Expansion konzentrieren. (Stichwort: Die Führungskraft als Coach/LernbegleiterIn)
Während Sarah in einem agilen Start-up neue Wege ging, stand Martin als Bereichsleiter im Mittelstand vor ganz anderen Herausforderungen – und fand doch ähnliche Antworten.
Praxisbeispiel 2: Martin – Bereichsleiter im Mittelstand
Martin, Anfang 40, ist Bereichsleiter bei einem mittelständischen IT-Dienstleister. Lange traf er die meisten Entscheidungen selbst – oft aus Gewohnheit, manchmal auch aus Zeitdruck. Mit zunehmendem Wachstum stieg die Komplexität, und er merkte, dass er an seine Grenzen kam. Fehler häuften sich, Themen blieben liegen.
Mit einem Pilotteam probiert er neue Wege:
- Verteilung von Führungsaufgaben: Eine erfahrene Mitarbeiterin übernahm die Prozessverantwortung für den Service Desk, während ein Kollege die strategische Koordination im Cloud-Bereich verantwortete. Martin selbst definierte nicht mehr jedes Detail, sondern übergab den Entscheidungsrahmen bewusst an die jeweiligen Rollen. Die inhaltliche Zielsetzung entstand direkt durch die Verantwortlichen; nur in Fällen, in denen er ein relevantes Risiko für die Organisation sah, griff Martin korrigierend ein.
- Strukturierte Entscheidungsprozesse: Beim Thema „Einführung von Homeoffice-Regeln“ etablierte Martin ein Entscheidungsteam, das ein Framework entwarf und anschließend dem gesamten Bereich präsentierte. Das Team konnte Rückmeldungen und Ergänzungen einbringen. Am Ende wurden die neuen Regeln mithilfe einer Widerstandsabfrage verabschiedet – schnell, transparent und mit hoher Akzeptanz.
- Verlagerung des Einflusses: Statt selbst über die Tool-Landschaft zu entscheiden, initiierte Martin einen partizipativen Prozess: Das Team entwickelte zunächst eine Kriterienliste und traf die Auswahl anschließend gemeinsam. Martins Rolle lag nicht mehr im Treffen der Entscheidung, sondern im Absichern des Prozesses und im Sicherstellen, dass Qualität und Umsetzbarkeit gewährleistet blieben.
Auch in seinem Team gab es zunächst Bedenken. Manche fühlten sich überfordert, andere wollten keine Fehler riskieren. Martin begegnete dem mit gezielten Mini-Trainings, Tandems für geteilte Verantwortung und gemeinsamer Vorbereitung wichtiger Entscheidungen. Nach neun Monaten liefen Entscheidungen schneller, das Team war innovativer und die Zufriedenheit spürbar gestiegen.
Die Erfahrungen von Sarah und Martin lassen sich verdichten: Es gibt typische Schritte, die Führungskräfte gehen können, um verteilte Führung erfolgreich einzuführen.
5 Schritte zur verteilten Führung „light“






Konkrete Umsetzungsideen für den Start
- Starten Sie mit einer „Verantwortungslandkarte“: Wer entscheidet aktuell was? Welche Entscheidungen liegen bei Führungskräften und welche können weitergegeben werden?
- Probieren Sie rotierende Rollen in Meetings aus: Moderation, Zeitwächter*in, Protokollführung.
- Testen Sie die Wiederstandabfrage oder das Konsent-Verfahren in einem kleinen Rahmen, z. B. für eine interne Entscheidung ohne große Tragweite.
- Planen Sie eine erste Retrospektive: 60 Minuten reichen aus, um gemeinsam zu reflektieren, was funktioniert und was nicht.
- Suchen Sie ein kleines Experiment, das innerhalb von vier Wochen umgesetzt werden kann – und werten Sie es anschließend aus.
Fazit
Verteilte Führung light ist ein praktikabler Einstieg in eine zukunftsgerichtete Form von Verantwortung. Die Beispiele von Sarah und Martin zeigen: Schon kleine Schritte verändern Führung spürbar – sie entlasten Führungskräfte, steigern die Eigenverantwortung und erhöhen die Leistungsfähigkeit von Teams. Entscheidend ist, dass der Weg individuell gestaltet wird: Jedes Team entwickelt sein eigenes Modell, Schritt für Schritt. So wächst Vertrauen – und Eigenverantwortung wird nicht nur gefordert, sondern tatsächlich gelebt.
Dies war der erste Blickwinkel: Führungskräfte, die den Schritt wagen. Im nächsten Artikel geht es um die Mitarbeitenden: Wie erleben sie Verantwortungsteilung – und welche Voraussetzungen brauchen sie, um wirklich mitzuwirken?
„Am Anfang war ich skeptisch – plötzlich sollte ich Entscheidungen treffen, die früher mein Chef getroffen hat. Aber dann habe ich gemerkt: Ich kenne die Probleme unserer Kunden oft viel besser als er…“
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