Welche Rolle wird Führung in der Zukunft spielen? Wird es noch Hierarchien geben, die von oben nach unten bestimmen, wo es lang geht? Wieviel Demokratie ist im Unternehmen heutzutage möglich und wieviel Führung nötig?
Neue Organisationsformen schießen wie Pilze aus dem Boden. Immer mehr Berichte, Bücher und Fallstudien erscheinen über Unternehmen, die es anders machen: Wirklich flache Hierarchien, tatsächliches „Empowerment“ der Mitarbeitenden, Nutzung agiler Methoden auch außerhalb der IT-Branche. Begriffe wie „New Work“ oder „Das demokratische Unternehmen“ sind dafür kennzeichnend. Im Jahr 2015 hat die Firma Hema aus dem schwäbischen Frickenhausen den New Work Award gewonnen. Das Unternehmen konstruiert und produziert Schneidsysteme und Bandsägen. Klassischer deutscher Mittelstand mit ca. 200 Mitarbeitern also. Ein schönes Beispiel, dass agile Ansätze auch im produzierenden Gewerbe und nicht nur in IT-Firmen und „Start ups“ funktionieren können. Oder denken Sie an eines der besten Orchester der Welt – das Orpheus Chamber Orchestra mit Sitz in New York – das gänzlich ohne Dirigent auskommt und dessen Teampraktiken als „Orpheus Process“ bekannt wurden.
Doch wie sieht bei größeren Unternehmen aus? Sagen wir mal, mit einem Umsatz von rund 700 Mio Dollar? Marktführer in den USA, mehrere hundert Mitarbeiter, in Hochzeiten sogar mehrere Tausend. Und es gibt niemanden, der Ansagen macht, keine Führungskräfte, keine Hierarchie. Wie soll das funktionieren? Morning Star heißt diese Firma und sie verarbeitet Tomaten, unter anderem zu Ketchup. Doug Kirkpatrick, ehemaliges Mitglied im Gründerteam und Controller, beschreibt die Erfolgsstory in seinem Buch „Beyond Empowerment: The Age of the Self-Managed Organization“.
Als Schlüsselprinzipien für effektives Selbstmanagement nennt Kirkpatrick zwei Aspekte:
Menschen sollten keinen Druck auf andere oder deren Eigentum ausüben.
- Menschen sollten ihre Vereinbarungen, die sie anderen gegenüber getroffen haben, einhalten.
Wenn Menschen nach diesen zwei einfachen Prinzipien wirklich leben würden, dann sei eine hilfreiche Grundlage gelegt, um engagiert, kooperativ und hochperformant arbeiten zu können.
Als weitere Aspekte – im Sinne einer entsprechenden Grundhaltung – führt er an:
- Menschen sind generell glücklicher, wenn sie Kontrolle über ihr Leben und ihre Arbeit haben – Es macht keinen Sinn, Menschen Entscheidungsbefugnis zu geben, die weit weg sind (z.B. räumlich, hierarchisch).
- Wenn man Menschen die Möglichkeit gibt, mehr Verantwortung zu übernehmen, blühen diese auf.
- Das traditionelle, hierarchische Modell von Organisationen ermöglicht keine Skalierung, es ist vielmehr ein Rezept für einen langsamen und schmerzhaften Tod.
- Es gibt eine nicht zu leugnende Verbindung zwischen Freiheit und ökonomischer Prosperität in der Welt und – darüber hinaus – eine nicht zu verleugnende Verbindung zwischen fehlender Freiheit und Korruption auf nationaler Ebene. Das gleiche trifft auch auf Organisationen zu.
Viele der von Morning Star seit Jahren erfolgreich angewandten Geschäftspraktiken ergeben sich daraus:
Dezentrale Steuerung und vertrauen auf die Steuerungsintelligenz der einzelnen Mitglieder/innen, die Organisation besteht aus Teams von ca. 7-10 Personen – ansonsten Zellteilung, dezentralisierte Entscheidungsprozesse mit klaren Regeln, größtmögliche Freiheit bei gleichzeitiger Verpflichtung zur Einhaltung der zugesagten Aufgaben, so wenig Bürokratie wie möglich, Mitarbeiterentwicklung geschieht selbstgesteuert, Übernahme von Managementaufgaben in jeder Funktion (Koordination, Planung, Kontrolle, Arbeitsmittelbeschaffung etc.), vernetzte, adaptive Strukturen statt klassischer Pyramide, Effizienzoptimierung durch autonome Teams.
Das bedeutet, dass es auf jeden Einzelnen wirklich ankommt. Das kann nicht nur anstrengend sein, es ist anstrengend und herausfordernd. So manch eine/r würde sich sicherlich manchmal ein „Machtwort“ wünschen statt kräftezehrender Diskussionen. Es wird auch nicht jede/r mit dem Maß an Verantwortung zurecht kommen, das in einer solchen Organisationsform verlangt wird. Das zeigt die hohe Fluktuationsrate von gigantischen 50% in den ersten beiden Jahren der Zugehörigkeit. Das wird sicherlich auch daran liegen, dass es manchen Menschen schwer fallen dürfte, andere in die Pflicht zu nehmen, was dieses Organisationsmodell aber letztlich ausmacht. Darüber hinaus kann ein Nachteil darin bestehen, dass die Mitarbeitenden, wenn sie das Unternehmen verlassen, keine Dokumentation über ihre persönliche Entwicklung haben.
Fazit: Firmen wie diese sind über den Experimentierstatus längst hinaus, sie zeigen, dass Selbstmanagement und ein hoher Grad an Demokratie möglich sind. Und das auch bei großen mittelständischen Unternehmen. Dabei geht es nicht darum zu bewerten, ob ein solches Organisationskonzept besser ist als ein anderes. Von außen sehen viele Firmen glänzend aus. Es bedeutet ebenfalls nicht, dass Organisationskonzepte dieser Art zukünftig die einzig Möglichen sein werden, die in einer VUCA-Welt erfolgreich bestehen können. Auch innerhalb einer Organisation sind unterschiedliche Designs denkbar und realisierbar (Stichwort „Ambidextrie“, „duales Betriebssystem“). Außerdem: Nach VUCA werden neue Herausforderungen auf Organisationen zukommen, von denen man heute noch nichts ahnt und es wird neue Firmen geben mit entsprechenden Alternativen. Aber eines machen diese Beispiele deutlich: Vieles ist möglich – auch wenn es zunächst unglaublich erscheint. Denken Sie an den Kybernetiker Heinz von Förster als er sagte: „Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist und immer auch anders agieren könnte, kann verantwortlich handeln.“