Raphael Gielgen hat beruflich die meiste Zeit damit verbracht, die Welt der Arbeit ein wenig besser zu machen.
Seine Neugierde für Architektur, Technologie und den gesellschaftlichen Wandel im Kontext der Arbeitswelten sind sein Treibstoff – immer verbunden mit der Fragestellung, wie sich die globalisierte Arbeitswelt verändert und welchen Einfluss dies auf existierende Geschäftsmodelle hat. Sein Aktionsradius führt rund um die Welt. Auf der Suche nach dem “Quellcode” der Arbeitswelt besucht er Universitäten, Unternehmern, Startups & Labs. Die Erkenntnisse und Erfahrungen dokumentiert er auf einem „Panorama“. Dies ist eine Landkarte der Trends und Muster einer neuen Welt. | |
Foto: Tom Ziora, Copyright: Vitra | |
REFLECT: Sie sind Trendscout „Future of Work“ beim führenden Büromöbelhersteller Vitra. Was genau machen Sie in Ihrem beruflichen Alltag und woher nehmen Sie Ihre Inspiration?
Raphael Gielgen: Ein wesentlicher Bestandteil meiner Aufgabe ist es, die Muster der vor uns liegenden Arbeitswelt aufzudecken. Das bedeutet: Signale zu entdecken und zu empfangen und aus diesen Signalen Bilder einer möglichen Zukunft im Kontext der Arbeit abzuleiten und aufzuzeichnen. Im Wesentlichen interessiert mich die Wissensarbeit, welche auch dem Kontext von Vitra entspricht.
Anhand dieser Bilder erstellen wir Muster bzw. Landkarten, die es unseren Partnern, Kunden und Freunden ermöglichen, sich in eine andere Zeit zu versetzen.
Ich bin per se neugierig und mich interessiert prinzipiell erst mal alles. Dadurch ist es mit der Inspiration relativ einfach. Im Grunde ist jeder Tag für mich wie die Sendung mit der Maus. Es gibt natürlich Dinge, die ich mir bewusst aussuche oder besichtige. Ebenso viele Dinge gibt es, die mir vor die Füße fallen – durch Lesen, Hinschauen und den Austausch mit Leuten.
REFLECT: Einem Trendscout muss man natürlich die Frage stellen: Was sind die Trends von morgen?
Raphael Gielgen: Alle 18 Monate erstelle ich ein Workpanorama mit acht Themenclustern. Ein neues Cluster ist zum Beispiel „Planet-Centric-Design“: die Verantwortung, die wir als Menschen für den Ort haben, an dem wir leben. Man kann sich natürlich fragen: Was hat das mit der Arbeit zu tun?
Mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung drückt die internationale Staatengemeinschaft ihre Überzeugung aus, dass sich die globalen Herausforderungen nur gemeinsam lösen lassen. Die Agenda schafft die Grundlage dafür, weltweiten wirtschaftlichen Fortschritt im Einklang mit sozialer Gerechtigkeit und im Rahmen der ökologischen Grenzen der Erde zu gestalten. Die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen dienen als gemeinsame Orientierungshilfe für Unternehmen, ihre Ziele und Tätigkeiten auf eine nachhaltige Entwicklung auszurichten.
Für die Arbeitswelt kann das bespielweise bedeuten, dass Mitarbeiter weniger pendeln und von zuhause arbeiten. Auch bei Firmengebäuden können Unternehmen ihren Beitrag leisten, indem man auf konstruktiven Holzbau setzt, statt aus Beton zu bauen. Adidas hat jetzt das erste Gebäude aus Holz fertiggestellt, bei Alnatura in Darmstadt ist Europas’s größter Lehmbau entstanden. Firmen achten plötzlich auf „local“ und „seasonal food” und bieten dementsprechend solche Gerichte auch in ihren Kantinen an.
Das „anywhere ecosystem of work“ ist ein weiteres neues Thema. Die Arbeit hat sich von dem alten Büro befreit und plötzlich können Menschen den Ort ihrer Arbeit nach ihren Lebensumständen auswählen. Ob ich jetzt zuhause bleibe, in einem “Co-Working Space” in der Nachbarschaft arbeite, in einem Hotel oder ins “Headquarter” fahre, diese Entscheidung kann ich frei treffen.
Ein anderes Thema ist „virtual connectivity“. Wenn die physische Architektur der Arbeit die erste Ebene ist, bildet die virtuelle die zweite Ebene. Beide Ebenen müssen beachtet werden, um die Potenziale dieser beiden Welten zu verstehen. Anschließend kann man sein Unternehmen orchestrieren und das Beste aus beiden Welten nutzen. Die Menschen, die aus der klassischen Architektur kommen, müssen sich also mit der virtuellen Welt beschäftigen und umgekehrt. Ich gehe davon aus, dass es irgendwann einen modus operandi gibt, der es uns ermöglicht auf die beste Art und Weise zusammen zu arbeiten.
Aktuell haben wir unsere Verhaltensweisen aus dem Büro auf unser Büro zuhause kopiert und sind kritiklos dorthin umgezogen. In Zukunft wird Routinearbeit noch stärker automatisiert werden. Die IT – Abteilungen sind regelrecht aufgewacht und haben festgestellt, wie vollumfänglich dies mit Plattformen wie z. B. Microsoft Teams möglich ist. Die Zukunft gehört dem Kollektiv.
In dem Moment, wo Probleme nur im Kern nur durch Interaktion mit Kollegen gelöst werden können, werden Räume zum Tragen kommen, die die Interaktion, die Zufälligkeit, das Experiment im Sinne eines Raumes unterstützen.
REFLECT: Covid-19 hat die wirtschaftliche Welt einmal auf den Kopf gestellt und durchgerüttelt. Wie erlebt Vitra die Zeit des Lockdowns und was nehmen Sie als Chancen aus der Krise mit?
RG: Als größte Chance habe ich das langsame Denken erfahren. Ich habe den Stillstand auch genossen und gemerkt, wie wichtig es ist, langsam zu denken.
Die Komplexität der deutenden Signale ist „key“. Die Menschen, die heute ein Stück weiter vorne sind, haben im Grunde nur eins gemacht: hingeschaut. Es geht nicht um das Erfinden von etwas, wir schauen einfach zu wenig hin. Spurenlesen bedeutet hinzuschauen und geduldig zu warten, bis sich das trübe Wasser klärt.
Wir haben als Firma gespürt, dass die Isolation der letzten Monate nichts für uns ist. Da ist die Sehnsucht groß wieder ins Büro zurückzukehren.
Nicht unwesentlich war die Erfahrung, wie gut man sich als Team organisieren kann ohne ständige Rückfragen an den Chef zu stellen. „Remote work” war eine hilfreiche Erkenntnis für alle. Dadurch sind wir viel besser in der Lage Entscheidungen zu treffen, Dinge zu kontextualisieren und Kunden angepasste Empfehlungen auszusprechen.
Ein weiterer Punkt ist die Geschwindigkeit der Veränderung. Das erfordert eine Agilität bei der das Verlernen das zentrale Element ist. Ich finde den Begriff lebenslanges Lernen unpassend, weil wir neben dem Lernen auch immer wieder verlernen müssen. Unsere ursprüngliche Konditionierung hindert uns daran, Dinge anders zu tun, weshalb wir einen “Reset” brauchen, um neue Dinge zu lernen.
REFLECT: Vitra steht für offene Bürokonzepte, um Qualität und insgesamt eine größere Vielfalt an Optionen zu gewinnen. Wie wird Ihrer Meinung nach die neue Normalität – oder wie wir es nennen „die verbesserte Realität“ – trotz neuer Hygienestandards, Abstandsregelungen und möglichen Flächeneinsparungen im Büro aussehen?
RG: Die zentrale Herausforderung wird darin bestehen mit der physischen und virtuellen Architektur der Arbeit umzugehen. Wir sind als Gesellschaft zu absolut und suchen Ad-hoc Antworten. Ein weiteres Problem ist die Netflix-Society – „Subscription economy“ ist für unseren Kopf nicht gut. Alles bequem von zuhause aus erledigen zu können, ist Gift für uns, weil wir dann nicht mehr vor die Tür treten und das Erfassen dieser Welt mit all unseren Sinnen komplett reduzieren. Gegen diese Faktoren müssen wir ankämpfen.
REFLECT: Mit Vitra arbeitet REFLECT ja schon seit geraumer Zeit zusammen, und zwar insbesondere immer dann, wenn es bei größeren Projekten um eine gute Balance zwischen Qualität im UMFELD und Qualität im UMGANG geht. Wie wichtig ist Ihrer Erfahrung nach eine solche Balance?
RG: Ich spreche vom kulturellen „Framework“ einer Organisation. In der Vergangenheit haben wir die Unternehmenskultur u.a. auf Vertrauen und Loyalität reduziert. Das Management war nur auf Strategie fokussiert. Die soziale Ordnung einer Firma ist aber unsichtbar und heißt Kultur.
Es gibt Firmen, die sind autoritär und performant, andere sind fürsorglich und sinnhaft. In anderen Worten sind sie stabil und abhängig, oder flexibel und unabhängig. Eine Anwaltskanzlei basiert sicherlich mehr auf Ordnung, während für eine Organisation wie Alnatura „Purpose“ und „Caring“ wichtig sind. Wenn das die Charakteristiken eines kulturellen Frameworks sind, dann geben sie Anleitung und Orientierung in jeder Interaktion, sowohl untereinander als auch mit Dritten.
Die Architektur ist die Körpersprache dieses kulturellen „Frameworks“ und kann es massiv unterstützen. Man muss sich dieser stellen, um mit der rasanten Geschwindigkeit der Veränderung mithalten zu können und das System der sozialen Ordnung seiner Firma kennen und bewusst nutzen, um seine Ziele zu verfolgen.
REFLECT: Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Eckpunkte, um ein Büro zu gestalten, das zukünftigen Ansprüchen bestmöglich gerecht wird? (bspw. in Bezug auf Gesundheit der Mitarbeiter, Agilität, Prozesse, Strukturen, Wirtschaftlichkeit etc.)
RG: Dazu würde ich gerne den Prototypen des Vertical Campus erläutern: er soll die alte und neue Arbeitswelt zeigen. Dieser entstand während der Lockdown Phase in Zusammenarbeit mit drei Architekturstudenten der TU München.
Im Basement des Gebäudes ist eine Hyperloop Station. Gleichzeitig werden alle Wareneingänge und Warenausgänge automatisiert auf E-Paletten verarbeitet.
Die darüber liegende Fläche bildet die Plaza, rechts und links umfasst von einem alten Verwaltungsgebäude. Die Idee war es das Neue auf das Alte zu bauen, um der Natur nichts zu nehmen. Außerdem kann man so besser begreifen wie limitiert die Dimension der heutigen Gebäude ist. Das rechte Verwaltungsgebäudes wurde zum „Factory Hotel“ umgebaut: ein „Coworking Space“ für Maschinen und für die, die nicht alle Maschinen haben. Der Neubau ist über die gesamte Kubatur beider alten Gebäude gebaut. Dabei kommt man zunächst in den thematischen Bereich der „Campus Community“, beginnend mit der „Townhall“, welche wiederum in vier „Micro-Townhalls“ gesplittet ist -mit der Option sie wieder als eine große zusammenzufassen. Davon links gelegen gibt es ein Studio, weil ich davon ausgehe, dass die Mehrheit der Unternehmen in den nächsten Jahren ein eigenes Film- und Podcaststudio haben wird. Das gesamte Gebäude basiert auf neuen Technologien des konstruktiven Holzbaus.
Eine Ebene höher trifft man auf den thematischen Bereich „permanent beta“, ein Raum der im Grunde wie eine technische Theaterbühne funktioniert. Es besteht die Möglichkeit Decke und Boden flexibel zu nutzen, um Räume schnell umzubauen und ganz unterschiedliche Settings zu realisieren – je nach Bedürfnis. Ich sehe das als die räumliche Quelle der Inspiration.
Wiederum höher befindet sich das Thema „Teletransfer“ mit „Reskilling“ und „Upskilling“. Dieser Raum dient in erster Linie der Vermittlung von Wissen und neuem Wissen für das Kollektiv. Dort gibt es bekannte Elemente wie eine Bibliothek aber auch neue wie „Holodesks“. Mittig bildet der „Timesquare“ mit riesigen „Billboards“ das Zentrum dieser Etage und versorgt die Menschen mit permanenten Informationen, so dass sie sich stetig weiterbilden können und zudem neue Dinge entdecken.
In der obersten Etage ist das Thema „human core“ angesiedelt – wo Kreation stattfindet, muss auch genügend Raum für Regeneration sein. Hier kann man zur Ruhe kommen und meditieren oder Yoga oder Sport machen.
Der Vertical Tower ist für mich ein Polarstern, keine Utopie, dafür ist er nicht weit genug weg. Man sieht deutlich, wie limitiert die alte Architektur der Arbeit ist. Leider sind wir teilweise so kritiklos geworden und haben die alte Welt, die wir so domestiziert haben, zu häufig und basierend auf Standards kopiert. Wir sind nicht mehr in der Lage über diese Standards hinaus zu denken, obwohl genau das unsere gesellschaftliche Verpflichtung ist. Wir sollten mehr Rebellen sein.
REFLECT: Last but not least: Wie sieht Ihr eigenes Büro aus?
RG: Zuhause habe ich ein komfortables großes Studio – bestimmt 40 m2 groß. Wir wohnen auf dem Land neben einem kleinen Hof mit offener Wohnküche. Während Corona habe ich mir ein erstklassiges „Hallo Welt Webcast Studio“ eingerichtet. Meine Familie hat allerdings gestreikt als ich morgens mit Japan oder abends mit Kalifornien Sessions hatte. Mit dem Bellen unserer Hunde nach 7 Minuten 40 im „Webcast“, bin ich samt Studio in einen geschlossenen Raum übergesiedelt.
Bei Vitra habe ich natürlich auch ein Büro und auch meine Kollegen. Es ist aber 505 km entfernt. Ich nehme den Weg gerne auf mich, da ich zuhause meine Ruhe, meine Inspiration finde. Zudem zählen Transitzonen für mich zu einem weiteren Ort. Einfach um Menschen zu beobachten und hinschauen zu können, das fällt natürlich gerade weg.
REFLECT: Vielen Dank für den Blick in die Zukunft und alles Gute!
Das Gespräch führte Jutta Merkel.