Agile, flexible und effiziente Prozesse, die Übersicht, Kontrolle, schnelle Reaktions- und Anpassungsfähigkeit sowie fehlerfreie Abläufe und die Einhaltung von Standards garantieren – so oder so ähnlich lautet die Idealvorstellung von Prozessmanagement in jedem Unternehmen. Denn letztlich wollen wir alle dasselbe, egal ob Konzern oder Start-Up: Abläufe in möglichst hoher Qualität bei möglichst geringen Kosten. Doch die Realität sieht meist anders aus. Im siebten und letzten Teil unserer Serie zur Kranken (KO) und Kränkelnden Organisation (KrO) beschäftigen wir uns mit den Fallstricken magerer und aufgedunsener Prozesse und zeigen einen balancierten Mittelweg auf – agile Prozesse in der Gesunden Organisation.
Einige Firmen haben sich so sehr dem Lean Management verpflichtet, dass ihre Prozesse nicht mehr schlank, sondern mager sind. Das sieht auf dem Papier schön aus, in der Umsetzung fehlt es aber meist an allen Ecken und Enden. Eventualitäten werden nicht bedacht. In einer Welt, die von Eventualitäten und ständigen Abweichungen gezeichnet ist, kann das fatale Folgen haben. Das Gegenbeispiel zur Prozess-Magersucht: Bürokratie – aufrecht erhalten durch Mitarbeiter, die für die Aufsicht und Durchführung aufgedunsener Prozesse tagein-tagaus Richtlinien und Normen folgen müssen – mit dem Ergebnis träger Organisationen und gelangweilter Mitarbeiter.
Abbildung 1: Die Kranke Organisation (Kallenbach, 2016)
Wie taumelnde Riesen – aufgedunsene Prozesse in trägen Organisationen
Wieso bilden manche Unternehmen völlig aufgeblähte Prozesssysteme? Die Antwort ist einfach: Angst vor Kontrollverlust. Viele Firmen zwängen alle Unternehmensprozesse in Ablaufpläne und versehen sie mit Standards, Normen, Verantwortlichkeiten und Handlungsoptionen. Das Problem dieser Bürokratisierung: Die Vielfalt der möglichen Geschehnisse und Außeneinwirkungen kann nicht ausreichend erfasst und abgebildet werden. Das wussten schon die griechischen Denker Platon und Aristoteles, doch bis heute wird – sowohl im Staat wie auch in Unternehmen – nach bürokratischen Prinzipien gedacht und gelebt. Zwar können Firmen im Regelfall nach festen Abläufen handeln, doch in einem komplexen, dynamischen und digitalen Unternehmensumfeld ist der Regelfall die Ausnahme – er macht Platz für vielfältige Einzelfälle, welche nicht durch Handlungsoptionen eines Standardablaufs zu erfüllen sind.
Viel hilft viel – Der „Wrong Turn“ träger Organisationen
Während Standardprozesse und klar geregelte Abläufe in stabilen Unternehmenskontexten zu hoher Effizienz und damit hohem Ertrag führen, verfehlen sie in einem dynamischen Kontext ihren Zweck –Unternehmen taumeln dann wie orientierungslose Riesen durch eine rasant wandelnde Geschäftswelt. Das einzusehen fällt nicht immer leicht, weshalb in vielen großen Konzernen sowie im Mittelstand Nachholbedarf in Sachen agiler Prozessgestaltung besteht. Das Paradoxe an trägen Organisationen: Häufig versuchen sie die fehlerhaften Standardprozesse durch komplizierte Zusätze und Variationen an die Dynamik des Marktes anzupassen. So entstehen aufgedunsene Prozesse, die zwar komplex und individuell erscheinen, in Wirklichkeit aber schwer verständlich, zu spezifisch und kompliziert sind und die Reaktionsfähigkeit des Unternehmens verringern.
Kranke Organisation: Rot und Blau – Nur zusammen stark
Abbildung 2 veranschaulicht die Problematik. Rot beschreibt dynamische Projekte und Funktionen, die individuell und agil funktionieren. Blau beschreibt effiziente Abläufe, die anhand geregelter Standards und nach klaren Plänen verlaufen. Die Grafik zeigt, dass Kränkelnde und Kranke Organisationen häufig nicht genügend rote Funktionen und Prozesse haben und darauf reagieren, indem sie ihre blauen Prozesse anpassen müssen. Das Ergebnis: Zeitverlust, Ressourcenverschwendung und Innovationsarmut. Die Gegenmaßnahme: Aufbau roter Funktionen, bspw. durch agile Projektteams, die sich Einzelfällen widmen können.
Abbildung 2: Einfluss eines VUCA-Kontexts auf die organisationale Dynamik und Wertschöpfung
(in Anlehnung an Wohland & Wiemeyer, 2007)
Ein Hauch von Nichts – Magere Prozesse in überforderten Organisationen
Seit den neunziger Jahren kennen wir „Lean Management“– die Schaffung von Werten ohne Verschwendung. Eine optimale Abstimmung aller Prozesse gepaart mit Kundenorientierung. Das Ergebnis: hohe Effizienz, optimierte Prozesse und gute Gewinnspannen. Insgesamt ein gutes Konzept, das allerdings auf viele verschiedene Bereiche übertragen wird und nicht immer in seiner Ganzheitlichkeit interpretiert wird. Unter „lean“ wird manchmal einfach nur „immer weniger“ verstanden, also weniger Struktur, weniger Prozesse, weniger Personal. Das Problem daran ist: Diese Interpretation verfehlt das eigentliche Grundprinzip der Wertschöpfung ohne Verschwendung, da eine überforderte Organisation langfristig keine Werte schaffen kann. Verschwendet werden durch magere Prozesse Zeit und Ressourcen. Zwar verfügt eine Organisation mit mageren Prozessen über zahlreiche blaue Prozesse, doch diese scheitern oft an fehlender Rollenklarheit, Personal und Verständlichkeit im Hinblick auf die Geschäftsabwicklung, Kundenbetreuung oder Innovationskraft.
Die Lösung: Duale Prozessgestaltung
Agile Prozesse sind eine Mischung von blauen Prozessen und roten Funktionen. Man kann daher bei der Bildung agiler Prozesse auch von dualer Prozessgestaltung sprechen, s. Abbildung 3. Prozesse setzen sich meist aus einem roten und einem blauen Anteil zusammen. Je dynamischer die Herausforderung, desto höher der rote Anteil des entsprechenden Prozesses. Die Aufgabe von Projektteams ist es, bei Störungen des blauen Prozesses zu intervenieren, das Problem zu bearbeiten und eine passende Entscheidung zu treffen. Dies macht den Prozess agil, da die Aufgabe bei Inadäquatheit schnell einem Expertenteam übergeben werden kann, welches Überraschungen kreativ und effektiv bearbeitet und die Aufgabe anschließend wieder in den blauen Prozess zurück überführt. Kommt es dann nochmals zur selben „Überraschung“, so ist diese nicht mehr überraschend und kann mit dem vorangegangenen Lösungsansatz bearbeitet werden. Die Aufgabe wird in der Folge rationalisiert und in einen blauen Prozess transferiert.
Abbildung 3: Duale Prozessgestaltung (in Anlehnung an Wohland & Wiemeyer, 2007)
Bei geringer Dynamik wird der blaue Anteil wichtiger, da er Routineaufgaben standardmäßig und effizient lösen kann. Treten überraschende Probleme auf, muss der Prozess stärker individualisiert werden. Daher tun Organisationen gut daran, den blauen Anteil ihrer Prozesse zu beschreiben und den Versuch zu vermeiden, den roten Anteil zu detailliert zu definieren. Wollen Unternehmen rote Abläufe bestimmen, blähen sie ihre Prozesse auf, bis diese hochkompliziert, aber für ein komplexes Umfeld nicht mehr geschaffen sind. Die richtige Balance zwischen roten und blauen Funktionen im Hinblick auf den organisationalen Kontext bietet daher eine größtmögliche Prozess-Agilität.