In großen Organisationen ist Strategie „Sache des Vorstands“. Und bietet ganz selbstverständlich die exklusive Spielwiese für das Top Management. In kleinen und mittleren Unternehmen kümmert sich meist ein kleiner Kreis um Fragen der strategischen Ausrichtung – namentlich die „erweiterte Geschäftsleitung“, der „Führungskreis“, das „Managementteam“. Wenn es um die Gestaltung der Zukunft des Unternehmens geht, bleibt das Management mit seinen Beratern unter sich – während Mitarbeitende mit ihrem Wissen und Erfahrungsschatz vor der Tür ungefragt stehen gelassen werden.
Erst bei der Umsetzung von Strategien und Reorganisation kommen die Mitarbeitenden ins Spiel. Die Verwunderung ist groß, wenn, wie häufig zu beobachten, essenzielle Dinge übersehen oder Themen unzutreffend gedeutet wurden. Verwunderung schlägt in Ärger um, wenn die Reibungsflächen während der Veränderung zu schmerzen beginnen. Oder, wenn sich einsame Entscheidungen elitärer Zirkel im Nachhinein als suboptimal, manchmal sogar als fatal für das Unternehmen erweisen.
Direktiv oder partizipativ? Basisannahmen über die Zukunft helfen bei der Entscheidungsfindung
Mitarbeitende haben operative Aufgaben. Mit Strategie, Unternehmens- und Organisationsentwicklung haben sie „nichts am Hut“.
Diese Vorstellung entspricht der klassischen Sichtweise darüber, wie ein Strategieprozess zu gestalten ist: Direktiv, verordnend, top down (Abbildung1, linke Seite).
Abbildung 1: Direktive oder parizipative Strategieentwicklung?
So ist es in Management-Lehrbüchern zu lesen und muss deshalb richtig sein. Ein diesen Vorstellungen entsprechender klassischer Strategieprozess hat seine Berechtigung und Vorzüge. Allerdings nur unter EINER Bedingung: Die Basisannahme „Unser Unternehmensumfeld ist stabil, die Zukunft ist vorhersehbar“ trifft zu.
Für den Fall, dass diese Basisannahme nicht der Realität entspricht, weil wir in einer „VUCA-Welt“ (Abbildung 2) leben, muss auch die Art, wie strategische Führung zu handhaben ist, völlig anders gedacht werden. Entscheidern bieten sich Spielräume (Abbildung 1, in der Bewegung nach rechts), den sie für Veränderung ihres Führungshandelns nutzen sollten. Je mehr von den Bedingungen einer VUCA-Welt auszugehen ist, …
- … umso weniger sind einsame Entscheidungen eines Einzelnen „von oben“ zielführend, die im Stil direktiv-verordnender Ansagen daherkommen
und
- … umso mehr sollte der Prozess strategischer Positionierung und Zielfindung „emergent“ (im Sinne von ständig neu entstehend, sich entwickelnd) interpretiert und gemeinsam lernend vorangebracht werden.
Abbildung 2: Die VUCA-(Um-)Welt von Unternehmen
Diese Überlegung geht davon aus: Die Intelligenz des genialen, aber einsamen Entscheiders an der Spitze wird zum limitierenden Faktor, sobald das Unternehmen in einem VUCA- geprägten Umfeld operiert. VUCA-Dynamiken verlangen kollektives Lernen, unter Einbezug vielfältiger Sichtweisen Organisationsmitglieder, um fundierte Entscheidungen zu gewährleisten; denn diese sind besser als Entscheidungen eines von der Dynamik der Situation überforderten Einzelnen.
Die Einbindung von Mitarbeitenden in die Strategieentwicklung ist notwendig. Aber ist sie auch machbar?
Die Antwort ist ein klares „Ja!“. Eine partizipative, die Expertise der Organisationsmitglieder*innen einbeziehende Herangehensweise kann völlig flexibel gestaltet werden. Auch Umfang und Intensität sind frei gestaltbar. Möglichkeiten zur Einbindung engagierter Mitarbeitender bieten sich u.a., in dem diese bei der Formulierung von Zukunftsszenarien beteiligt oder zum Feedback in den Prozess der Visionsentwicklung eingeladen werden.
Der gemeinsame Blick über den Tellerrand kann über passende Formate gefördert und genutzt werden. In abteilungsübergreifenden Strategierunden, in crossfunktionalen Teamworkshops oder über andere Plattformen, werden Mitarbeiterwissen und Erfahrungen nutzbar gemacht. Mitarbeiter-Expertise fließt ein z.B. als Anreicherung für die Strategieanalyse oder durch kritisches Hinterfragen der Positionierung im Markt. Erfahrungswerte aus dem Mitarbeiterkreis sind wertvoll, wenn es um die Herausforderung geht, Strategieziele wirklich realistisch zu formulieren.
Eine Namensgebung wie „Strategierunde“ oder „Visionsworkshop“ mag in manchen Ohren angestaubt klingen. Labels aus der aktuellen Unternehmenspraxis, z.B.: „Company Learnig Bites“, „Future Experience Session“ oder „F**kUpNight“ kommen leichtfüßiger daher. Wenn Anglizismen dabei helfen, das Kronjuwel „Mitarbeiterintelligenz“ aus der Asservatenkammer zu holen … – Warum nicht?
Der partizipative Weg? – Davon sollten Sie sich als Entscheider*in NICHT abschrecken lassen
Unternehmer*innen und Top-Manager*innen möge die naheliegende Sorge umtreiben: „Ich verliere Einfluss und büße meine Entscheidungsfreiheit ein.“ Dies scheint auf den ersten Blick auch zuzutreffen. Bei genauerem Hinschauen lässt sich diese Sorge zerstreuen. Partizipative Führung hat nichts mit der Einführung basisdemokratischer Verhältnisse im Unternehmen zu tun. An der formalen Entscheidungsbefugnis der Verantwortlichen an der Spitze ändert sich nichts. Der CEO bzw. das Top Team trifft nach wie vor die Entscheidungen.
Was sich ändert ist die Qualität des Strategie-Entwicklungsprozesses, die Ergebnisqualität der Formulierungen von Strategien und Visionen und der Realitätsbezug von Zielen und Maßnahmen. Dass es in diesen Disziplinen viel „Luft nach oben“ gibt, zeigen Kapriolen, die bei der Lektüre der Ergebnisse von Strategieprozessen gelegentlich ins Auge fallen. Merkwürdig anmutende Visionsformulierungen wie „Passion for Kanalreinigung“ folgen augenfällig dem Zeitgeist (z.B. der „Leidenschaftswelle“ der Zehnerjahre: Eine gut formulierte Strategie baut auf „Passion“). Aktuellem Berater-Sprech folgend, landen Strategiezielformulierungen gelegentlich auch auf dem Zahlenfriedhof kennzahlenverseuchten Management-Denkens.
Selten oder gar nicht kommen Entscheider auf die Idee, simplen Fragen nachzugehen, wie z.B.:
Wer weiß eigentlich, was das Unternehmen wirklich gut kann? Wer kennt die Macken des Unternehmens, seiner Prozesse, seiner Produkte am besten? Wer weiß am besten, wo Ressourcen verschwendet werden? Wer weiß am besten, wo und wie das Unternehmen Geld verliert? Der Entscheider, den die Sorge vor zu viel Mitsprache seiner Mitarbeitenden umtreibt, kann mit diesen Fragen seine Grundhaltung hinterfragen.
Partizipation bei der Strategiefindung: Wer kommt überhaupt in Frage?
Auch diese Skepsis gegenüber mehr Partizipation erscheint berechtigt: Nicht jeder Mitarbeitende ist Willens oder in der Lage, ergänzend zu seinen operativen Aufgaben zusätzliches Engagement für die Zukunft des Unternehmens zu zeigen. Das ist misslich, aber kein Argument, die partizipative Schippe vorschnell an die Wand zu stellen.
Wichtig ist, die Willigen für den Strategie-Prozess zu gewinnen. Entscheider werden schnell fündig, wenn sie beim Blick in das Organigramm den Fokus auf die Personen, anstatt auf die Positionen richten: In jedem Unternehmen, in jeder Position und Funktion …
- gibt es Mitarbeitende, die sich wertige Gedanken zur Zukunft ihres Unternehmens machen und diese gern teilen würden – wenn sie nur dazu gefragt werden würden;
- gibt es Mitarbeitende, die sich mit ihren wertvollen Gedanken außerhalb des Unternehmens Gehör verschaffen, weil sie im Unternehmen nicht gefragt werden.
- gibt es auch Mitarbeitende, die sich keine Gedanken mehr machen, eben weil sie noch nie gefragt wurden!
Fazit
Die Vorstellung der partizipativen Strategieentwicklung kontrastiert augenfällig mit klassischen Paradigmen des Managementdenkens. Sie steht dem vorherrschenden Duktus der Managementlehre entgegen und passt so gar nicht zu Geist und Handeln des Entrepreneurships in der Unternehmenspraxis.
Die Reflektion der Basisannahmen, auf denen strategisches Denken und Handeln gründet, lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Wer sein Unternehmen erfolgreich in die Zukunft führen will, kommt nicht umhin, seine wertvollste Ressource auch in Fragen der Unternehmensstrategie zu konsultieren.
Umfang und Intensität der partizipativen Führung sind – je nach organisatorischer und personeller Ausganslage – flexibel gestaltbar. Es braucht dazu lediglich mehr Kreativität beim Führen und Mut, neue Wege mit den Mitarbeitenden zu gehen.
Wer es schafft, partizipative Strategieentwicklung als „gewohnte, selbstverständliche Übung“ zu verankern, trägt nicht nur zur Emanzipation vom Topf der Berater bei; er stärkt auch die Resilienz des Unternehmens bei Krisen.
Literaturtipps
Björkman, Hans (2008). Designing a participatory action research strategy: The Alva Myrdal Centre as a case study. International Journal of Action Research, 4(1). p. 5-33.
Chakravarthy, Balaji S. & Lorange, Peter (2008): Profit or Growth?: Why You Don’t Have to Choose. Wharton School Publishing.
Pfeffer, Jeffrey & Sutton, Robert I. (2006): Hard Facts, Dangerous Half-Truths, and Total Nonsense: Profiting from Evidence-Based Management. Harvard Business Review Press.
Schönhuth, Michael., Jerrentrup, Maja T. (2019): Partizipation in Entwicklungs- und Transformationsprozessen. In: Partizipation und nachhaltige Entwicklung. Springer VS. S. 43 – 60.
Sinz, Anja (2022): Partizipative Strategieentwicklung leicht gemacht“. In: Werner, Daniel B. et al. (Hrsg. 2022): Nachhaltiges Wachstum im Mittelstand, Springer Gabler, Wiesbaden. S. 23 – 30.
Bildquelle
https://www.pexels.com/photo/chess-piece-260024/
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