Empathie ist das neue Zauberwort, wann immer es um Führung und Management geht. Führungskräfte müssen heute sensibel für die Belange ihrer Mitarbeitenden sein, Verständnis haben und entsprechend mitfühlend handeln. Waren früher klare Ansagen erwünscht – man ist ja schließlich Führungskraft, also weiß man auch, wo es lang geht – rangiert heute der verständnisvolle, empathische Führungsstil. In manchen Diskussionsforen toben Führungskräfte schon über allzu viel Verständnis für Mitarbeitende und Kollegen/innen. Tatsächlich kann man den Eindruck bekommen, dass ohne Empathie rein gar nichts mehr geht. Despektierlich gefragt: Werden wir allmählich ein Volk der Warmduscherinnen und „Bäume-Umarmer“?
Ein paar Definitionen zur Klarheit vorneweg: Empathie wird als Veranlagung bezeichnet, sich in andere hineinversetzen und aus deren Situation eine Vorstellung zu entwickeln, wie es dem Gegenüber geht. Empathie gilt als eine wichtige Dimension der ebenfalls berühmt gewordenen Emotionalen Intelligenz, unter welcher die Fähigkeit verstanden wird, die eigenen Emotionen wahrzunehmen, zu verstehen, sie zu nutzen und beeinflussen zu können. Beides sollte allerdings nicht verwechselt werden mit dem Mitgefühl, unter welchem die Anteilnahme an einer Situation verstanden wird, ohne dass man jedoch die Emotion als solche teilen muss. Betroffenheit wiederum ist das Gefühl, das ich bei mir selbst erlebe, wenn ich mit einer entsprechenden Situation konfrontiert werde, wenn bspw. jemandem aus dem Kollegenkreis etwas passiert ist. Empathie ist also eine Disposition, auf bestimmte Weise emotional auf die Situation anderer zu reagieren. Sie bedeutet aber nicht, durch das Verständnis des anderen dessen Verhalten immer zu billigen, sehr wohl aber sich vorzustellen, wie jmd sich in dieser Situation fühlt und wie er oder sie sich deshalb vermutlich verhalten wird.
Stellen Sie sich vor, Ihr Mitarbeiter erzählt Ihnen von einem persönlichen Verlust. Sie hören zu und fühlen sich in Ihren Mitarbeiter ein. Sie erleben plötzlich eine ähnliche Traurigkeit und können nachvollziehen, wie sich Ihr Gegenüber gerade fühlt. Sie versetzen sich in die Lage des Mitarbeiters und überlegen automatisch, was er jetzt wohl am ehesten braucht. Weniger empathische Menschen werden von der Situation überrascht sein, manche sogar überfordert und deshalb nicht wissen, wie sie damit umgehen können. Sie flüchten sich in Plattitüden und gehen dann so schnell wie möglich zum „business as usual“ über.
Noch dramatischere Situationen sind denkbar, die viele von Ihnen vermutlich schon im Laufe Ihrer Führungskarriere erlebt haben dürften: Im Rahmen eines Firmenverkaufs müssen Sie den Mitarbeitenden verkündigen, dass es zu Kündigungen kommen wird. Die Spannung ist geladen, Sie selbst beschäftigen sich schon seit Wochen mit der Situation. Ihr Schlaf lässt seit Tagen zu wünschen übrig. Sie treten vor die Belegschaft, Einzelne kennen Sie schon seit vielen Jahren, wissen um deren persönliche Situation, kennen deren individuellen Schicksale. Sie spielen keine Rolle, sondern finden die richtigen Worte. Sie verschleiern nichts und sprechen klar und deutlich. Sie schaffen es sogar, das Vertrauen in die Stärken jedes Einzelnen herauszustellen und die Brücke in die Zukunft zu schlagen, so dass nahezu alle bestärkt, trotz der schlechten Nachrichten, aus der Veranstaltung gehen. Das Gegenteil sieht dann ungefähr so aus: Ein steifer, vom Blatt abgelesener „Vortrag“, juristisch absolut korrekt und bis ins letzte Detail geprüft, kein Blick in die Menge, ein nüchternes, schemenhaftes Verkünden der Begebenheit, ein Murmeln in Richtung „…war unvermeidbar…“, die faktischen Hinweise auf die rechtliche Situation – blablabla. Kein Mensch hört Ihnen mehr zu – unzufriedene Mienen, Gemurmel in der Belegschaft, die Ersten verlassen den Saal, die Stimmung kocht. Dass nicht noch rohe Eier und faule Tomaten geworfen werden, ist noch die beste Nachricht des unglücklichen Vormittags.
Tatsächlich bestätigen wissenschaftliche Metastudien (also Studien, die eine Vielzahl anderer Studien zum gleichen Thema analyiseren), dass Emotionale Intelligenz der „klassischen“, kognitiven Intelligenz im Sinne des beruflichen Erfolgs überlegen ist (Die Metastudie kann bei uns angefordert werden).
Die „dunkle Seite“ von Empathie zeigt immer dann ihr düsteres Gesicht, wenn das Verständnis des jeweils Anderen genutzt wird, um dessen Gefühle negativ zu manipulieren. Auch der Rattenfänger von Hameln war vermutlich emphatisch, wenn gleich er statt dem Mund eine Flöte bereit hielt, mit der er zunächst die Ratten und dann die Kinder verzauberte. Indem ich mich in mein Gegenüber hineinversetze, es besser verstehe, kann ich das auch zu meinen persönlichen Zielen ausnutzen. So manches „Business“-Theater und politische Taktieren wird durchaus unter dem Deckmäntelchen der Empathie gespielt.
Das Gegenteil kann allerdings auch der Fall sein: Sehr empathische Menschen können sich selbst verlieren und völlig im Anderen aufgehen. In jüngster Zeit werden dafür mitunter gerne die sogenannten Spiegelneuronen, also Nervenzellen im prämotorischen Kortex, verantwortlich gemacht. Sie sollen bewirken, dass wir Gefühle von anderen nachvollziehen können wie wenn wir sie selbst erleben würden. Der Unterschied zwischen den eigenen Gefühlen und den Gefühlen des Gegenübers verschwimmt, was dazu führen kann, dass wir uns selbst in diesem Sog der Gefühle verlieren. In der Folge können wir eine sinnvolle Distanz nicht mehr wahren, verlieren die eigene Souveränität und handeln möglicherweise situationsinadäquat.
In der Geschichte der Philosophie gab es eine ganze Reihe von Philosophen, die in der Empathie auch eine moralische Relevanz sahen. So billigen oder mißbilligen wir nach Adam Smith (1723-1790) das Verhalten eines anderen Menschen, in dem wir uns in ihn hineinversetzen und sein Verhalten entsprechend beurteilen. Je eher wir das Verhalten nachvollziehen können, desto angemessener erscheint es uns (Hürter et al., 2016). Empathie kann also auch verführerisch sein und zu „falschen“ Schlussfolgerungen verleiten, indem man die persönliche Affektivität als moralische Instanz erhebt. Eines ist bei Empathie jedoch immer die Grundvoraussetzung: Wir benötigen Informationen über die anderen. Ohne Informationen können wir uns nicht einfühlen und auch die Situation nicht beurteilen.
Fazit:
Empathie ist kein Selbstzweck. Sie ist auch nicht per se gut oder schlecht. Empathie hilft dabei, reflektierter zu werden und das persönliche Umfeld besser zu verstehen. Indem ich mich in andere hineinversetzen kann, kann ich auch mit deren Augen mich selbst sehen und mein Verhalten aus der Außenperspektive beobachten. Sie hilft Führungskräften, bessere Führungskräfte zu werden. Sie ist jedoch kein Allheilmittel. Wer keine eigenen Grenzen setzt, kann die Distanz zum anderen und damit sich, die persönlichen Ziele und die kritische Bewertung der Situation, aus den Augen verlieren. Wer jedoch andere versucht zu verstehen, sich in deren Lage zu versetzen, wird aus diesem Perspektivwechsel andere Schlüsse ziehen und bessere, balanciertere Entscheidungen treffen. Und deshalb: Ja, Empathie kann ein nützlicher Wegweiser sein.