Das Verständnis von Führung ist im Wandel. Nicht erst seit einigen Jahren, sondern seit den 20er-30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Eine der bedeutendsten Entwicklungen in der modernen Führungsphilosophie besteht darin, die Einsicht zu erkennen, dass ein egozentrischer Führungsstil oft weniger effektiv ist als ein Ansatz, der auf Empathie, Offenheit und vor allem auf Zuhören basiert.
Die Bedeutung von Führen ohne Ego
Traditionelle Führungsmodelle wurden oft von einem starken Ego geprägt, das sich in autoritären Entscheidungen, mangelnder Transparenz und einem Mangel an Mitarbeiterbeteiligung manifestierte. Ein solcher Führungsstil kann zwar kurzfristig Ergebnisse liefern, führt jedoch langfristig bewiesenermaßen häufig zu Unzufriedenheit, mangelnder Motivation und einem Mangel an Innovation innerhalb des Teams.
Das Konzept des „Führens ohne Ego“ betont, dass erfolgreiche Führungskräfte nicht durch Dominanz und Kontrolle hervorstechen, sondern durch Einfühlungsvermögen, Zusammenarbeit und die Wertschätzung der Fähigkeiten und Perspektiven ihrer Mitarbeitenden. Ein führungsstarker Charakter ohne Ego vermag es, sich selbst zurückzunehmen und Raum für andere zu schaffen, damit sie ihr volles Potenzial entfalten können. Die Schaffung eines Umfelds geprägt von Vertrauen und psychologischer Sicherheit ist deshalb eine der Hauptaufgaben von Führungskräften. Mitarbeitende sollten sich geborgen fühlen, denn ohne diesen zentralen Aspekt gestaltet sich die Zusammenarbeit mühsam und wenig produktiv.
Die Zuhör-Haltung als entscheidender Erfolgsfaktor
Eine grundlegende Eigenschaft einer „egoarmen“ Führungskraft ist die Fähigkeit des aktiven Zuhörens. Anstatt sich auf das eigene Ego und eigene Vorstellungen zu fokussieren, nimmt eine solche Führungskraft sich bewusst Zeit, um die Perspektiven, Ideen und Anliegen der Mitarbeitenden ernst zu nehmen. Durch die Haltung des Zuhörens entsteht ein Raum, in dem Mitarbeitende sich gehört und wertgeschätzt fühlen. Dies fördert nicht nur das Engagement und die Motivation, sondern ermöglicht auch die Zusammenführung verschiedener Standpunkte und Ideen, was zu innovativen Lösungen führen kann. Der bekannte Autor Simon Sinek („Golden Circle“) empfiehlt daher, stets als Letzter zu sprechen – eine Grundregel der Führung, wie sie bspw. auch von Nelson Mandela praktiziert wurde.
Viele Führungskräfte tendieren dazu, die Probleme ihrer Mitarbeitenden zu übernehmen, anstatt sie zu befähigen, diese selbstständig zu lösen. Das ist der berühmte Affe auf der Schulter. Sie bieten Lösungsvorschläge an und unterstützen bei der Umsetzung, was jedoch ihren Kolleginnen und Kollegen die Chance nimmt, eigenständig Problemlösungskompetenzen zu entwickeln. Dies kann zu einem Teufelskreis führen, in dem die Führungskraft zum Hindernis für den Fortschritt im Team wird. Eine Führungskraft hat die Verantwortung, eine langfristige Perspektive einzunehmen: Das schnelle Lösen von Problemen mag kurzfristig effektiv erscheinen, aber wie sieht es in sechs Monaten, einem oder gar in fünf Jahren aus? Ist es nicht sinnvoller, sich heute darauf zu konzentrieren, das Wachstum der Mitarbeitenden zu fördern, damit sie auch ohne direkte Anleitung erfolgreich sein können.
Die Frage ist natürlich, WIE Sie das angehen können?
Nehmen Sie eine Art Coachrolle ein: Stellen Sie Fragen, hören Sie aufmerksam zu und stellen Sie noch mehr Fragen. Indem Sie den Menschen, mit denen Sie arbeiten, erlauben, ihre eigenen Herausforderungen zu identifizieren und Lösungen zu finden, fördern Sie deren Selbstvertrauen und stärken ihre Fähigkeit zur Selbstentwicklung. Auf lange Sicht sparen Sie sich dadurch Zeit, die Sie gut in andere Führungsaufgaben investieren können. So erfüllen Sie nicht nur die Aufgabe, das Team zu entwickeln und zu fördern, sondern schaffen auch eine Atmosphäre des Vertrauens und der Selbstständigkeit, die langfristig den Erfolg des gesamten Teams unterstützt. Insbesondere während persönlicher Gespräche ist es entscheidend, Ihrem Gesprächspartner Raum zu geben, damit er seine Gedanken frei äußern kann. Dies kann durchaus mit der Herausforderung verbunden sein, den Drang zu unterdrücken, eigenen Ansichten einzubringen oder Lösungen anzubieten. Gleichzeitig könnte sich auch Ihr Gesprächspartner gehemmt fühlen, da er es gewohnt ist, die Verantwortung durch Rückversicherung an Sie abzugeben. In seinem Buch „The Coaching Habit“ stellt Michael Bungay Stanier eine Technik vor, die es dennoch ermöglicht, eine solche Gesprächsdynamik zu etablieren.
Staniers Technik
Sie eilen von einem Meeting zum nächsten, überfliegen Ihre Mails im Stehen und sind ständig damit beschäftigt, Probleme zu lösen. Ihre Mitarbeitenden warten oft lange auf Rückmeldungen und werden zunehmend frustriert. Kurz gesagt: Ihr Schreibtisch ist zum Engpass in Bezug auf Ihre Produktivität und die Ihrer Organisation geworden. Sie sind sich bewusst, was schiefläuft: Ihre Teammitglieder müssen selbstständiger werden. Sie müssen ihre Aufgaben und Herausforderungen eigenverantwortlich angehen und bewältigen können. Doch wie können Sie ihnen dabei helfen, mehr Autonomie zu erlangen?
Staniers Erfolgsgeheimnis:
Coache die Person, nicht das Problem.
Als Führungskraft ist es sinnvoll, das Coaching Ihrer Mitarbeitenden zur Gewohnheit zu machen – zu einem Coaching Habit. Anders als die meisten Unternehmen, in denen Coaching oft die Ausnahme bleibt: eine künstlich vom Tagesgeschäft abgetrennte Maßnahme mit guten, aber steril wirkenden Ansätzen, die weit weg vom Arbeitsalltag sind. Nutzen Sie stattdessen konkrete Situationen, um Ihre Teammitglieder in kurzen und informellen Gesprächen zu coachen. Das können zehn Minuten sein, die Sie in der Kaffeeküche nach einem Meeting mit ihnen verbringen. Dies ist viel praxisorientierter und greifbarer als eine formelle wöchentliche Sitzung.
Effektives Coaching erfordert ein Verständnis für die Person hinter dem Problem. Oftmals ist das scheinbare Problem nicht das eigentliche Problem. Indem Sie sich die Zeit nehmen, die Motivationen, Erfahrungen und Perspektiven der Person zu verstehen, können Sie ihr helfen, die Ursachen ihrer Herausforderungen zu erkennen und Lösungen zu entwickeln, die wirkungsvoller sind.
Die Kernfrage „Was ist Ihr Ziel?“ ist ein effektives Mittel, um anderen dabei zu helfen, ihre Bedürfnisse präzise zu formulieren. Wenn Sie mit einem Ihrer Teammitglieder über deren berufliche Ziele sprechen, können Sie das Gespräch mit dieser zentralen Frage beginnen. Sie ermutigt Ihr Teammitglied dazu, gründlich darüber nachzudenken, was es sich wirklich für die persönliche Karriere wünscht, und zwar über die derzeitige Rolle und Verantwortung hinaus.
Die Frage „Was war für Sie am nützlichsten?“ ist ein entscheidendes Werkzeug, um sicherzustellen, dass die Person, die Sie coachen, tatsächlich etwas aus dem Gespräch lernt. Es geht nicht nur darum, Probleme zu erkunden und Lösungen zu finden. Vielmehr möchten Sie Ihrem Teammitglied helfen, diese Erkenntnisse in konkrete Maßnahmen umzusetzen, die es sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich anwenden kann.
Eine Möglichkeit, um eine tiefere Reflexion und Erkundung in Ihren Gesprächen zu fördern, ist die Anwendung der AWE-Frage (And What Else?). Alternativ können Sie sich im aktiven Zuhören üben, indem Sie das Gehörte zusammenfassen und Ihrem Gesprächspartner zurückgeben.
Ein weiterer entscheidender Aspekt für die Entwicklung einer Coaching-Gewohnheit ist Kontinuität. Es ist wichtig, dass Sie Coaching zu einem festen Bestandteil Ihrer Interaktionen mit anderen machen, anstatt es nur als sporadische Aktivität zu betrachten. Dies kann bedeuten, dass Sie sich regelmäßig Zeit für Coaching-Gespräche nehmen, Coaching in Teambesprechungen oder Einzelgespräche integrieren oder einfach achtsamer und bewusster in Ihren täglichen Interaktionen sind.
Abschließender Impuls zur Umsetzung
Angenommen, Sie sind eine Führungskraft, die eine Coaching-Gewohnheit in ihrem Team etablieren möchte. Sie können damit beginnen, sich jede Woche 10 Minuten Zeit für persönliche Coaching-Gespräche mit jedem Teammitglied zu nehmen. In diesen Gesprächen konzentrieren Sie sich auf eine oder zwei Coaching-Techniken, wie zum Beispiel aktives Zuhören oder die AWE-Fragen.
Praktizieren Sie bereits aktives Zuhören bei Ihren Mitarbeitenden? Bei REFLECT stehen wir Ihnen zur Seite, um einen genauen Blick auf Ihre Situation zu werfen, möglichen Handlungsbedarf an den richtigen Stellen zu erkennen und differenzierte Schlussfolgerungen zu ziehen. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse erarbeiten wir praktikable und umsetzbare Lösungsansätze. Wir unterstützen Sie auf diesem Weg!
Quellen
Sinek S. (2023). The Transforming Power of Compassion
Avraham N. Kluger, and Guy Itzchakov (2022). The Power of Listening at Work. Annual review of organizational psychology and organizational behavior Vol. 9:121-146 (2022) https://doi.org/10.1146/annurev-orgpsych-012420-091013
Bregenzer, A., Milfelner, B., Šarotar Žižek, S., & Jiménez, P. (2020). Health-Promoting Leadership and Leaders’ Listening Skills Have an Impact on the Employees’ Job Satisfaction and Turnover Intention. International Journal of Business Communication, 0(0). https://doi.org/10.1177/2329488420963700
Baker, Edward L. MD, MPH, MSc; Dunne-Moses, Abigail MEd; Calarco, Allan J. MEd; Gilkey, Roderick PhD. Listening to Understand: A Core Leadership Skill. Journal of Public Health Management and Practice 25(5):p 508-510, September/October 2019. | DOI: 10.1097/PHH.0000000000001051
Bob Davids, Brian M. Carney, Isaac Getz (2019). Leadership without Ego
Michael Bungay Stanier (2016). The coaching habit
John C. Maxwell (2014). Good Leaders Ask Great Questions: Your Foundation for Successful Leadership