Was macht eine agile Organisation aus?
Volatile und dynamische Märkte verlangen nach agilen bzw. responsiven Organisationsdesigns. Bereits mehrfach haben wir in unserem Blog über neuartige Möglichkeiten der Organisationsgestaltung berichtet. Doch natürlich dienen neue Organisationsformen nicht als Allzweckwaffen – auch sie haben Schwächen. In dieser Notiz werden wir die Vor- und Nachteile herkömmlicher und neuer Organisationsdesigns mit Blick auf deren Agilität und Förderung der individuellen Leistungsfähigkeit bewerten. Zu Beginn werden wir die verschiedenen Organisationsformen in einem Quadranten verorten und die Positionierung anschließend erläutern.
Abbildung 1: Reflect-Quadrant: Klassifizierung von Organisationsdesigns nach Anpassungs- und Leistungsfähigkeit
Klassische Organisationsformen – effizient, aber nicht agil
Die klassisch-hierarchische Organisationsstruktur ist wahrscheinlich die Mutter aller Aufbauorganisationen. Hierarchische Strukturen eignen sich besonders in trägen Massenmärkten oder Märkten mit geringer Volatilität (vgl. u. a. Morris, Kuratko, & Covin, 2010). In ruhigen Fahrwassern führen diese Strukturen zu einer enormen Effizienz, weshalb sie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts quasi unangefochten waren und fast durchgängig angewandt wurden. Mit dem Wandel der Märkte, in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung entpuppen sich aber immer deutlicher die Nachteile hierarchischer Strukturen in einem unruhigen Umfeld. Häufig führen Bürokratie und Hierarchie zu Trägheit, Betriebsblindheit, Veränderungsresistenz und Kontextignoranz. Außerdem verhindert eine hierarchische Struktur oftmals die Entfaltung von Mitarbeiterpotenzialen, da diese aufgrund bürokratisch geregelter Abläufe und struktureller Hürden nicht zur Geltung kommen können. Kreativität, Autonomie und Wissensvernetzung werden typischerweise wenig gefördert.
Gegenüber dem klassisch-hierarchischem Modell, stellen Matrix-Strukturen ein deutlich komplexeres System dar, das Funktionen und Einheiten in einer Matrix zusammenbringt. Daher bieten Matrix-Strukturen eine größere Verantwortungsverteilung, stärkere abteilungsübergreifende Interaktion und Kommunikation sowie eine größere Perspektivenvielfalt für alle Mitarbeiter. Sie fördern dadurch Transparenz, „Empowerment“, Kreativität, unternehmerisches Denken und organisationales Lernen. Durch das Vermeiden klassischer Silo-Hierarchien erscheinen Matrix-Strukturen offener und aufnahmefähiger gegenüber neuen Umweltbedingungen und den damit einhergehenden Informationen als die klassisch-hierarchische Organisation. Allerdings bedeutet dies auch einen höheren Schnittstellenaufwand, Bürokratie, langsamere Entscheidungsprozesse und Redundanzen in Verantwortlichkeiten und Rollen sowie in der Kommunikation. Matrix-Strukturen zwingen Mitarbeiter eher zur Kompromissfindung. In einem volatilen Umfeld sind Matrix-Strukturen zu langsam in ihrem strategischen Umdenken, da viele Mitarbeiter zugleich Betroffene und Beteiligte sind und die Konsensbildung daher zeitintensiv ist.
Das demokratische Unternehmen – partizipativ, aber nicht agil
Im Gegensatz zu klassisch-hierarchischen und Matrix-Organisationen setzt das demokratische Unternehmen stärker auf Mitbestimmung. Mitarbeiter können Führungskräfte wählen, über Produkte abstimmen und Strategien mitbestimmen – Interessenvertreter bringen die Stimme des ‚Volkes‘ ins Top-Management. Das klingt grundsätzlich gut. Auf der anderen Seite bringt Demokratie aber zähe Entscheidungsprozesse und Diskussionen mit sich – das kennt man aus der Politik. In einer Demokratie sollen schließlich alle an der Entscheidungsfindung beteiligt werden – eine Mehrheit gewinnt, die restlichen Mitarbeiter fühlen sich nicht vertreten. Gesucht wird nach einem Konsens, der nicht zwangsläufig die beste Lösung ist, sondern ein Kompromiss verschiedener Ideen ist – und oftmals dadurch an Radikalität und Innovation einbüßt. Ein weiteres Problem: die Mitarbeiter werden nicht wirklich mit in die Verantwortung gezogen, sie wählen nun nur diejenigen selbst, die die Verantwortung für sie übernehmen sollen. Ein demokratisches Unternehmen ermöglicht es engagierten Mitarbeitern, von ihren Kollegen Verantwortung zu erhalten und somit ihre Fähigkeiten anwenden und ihre Potenziale entfalten zu können. Doch die politische Trägheit, der Zwang der Kompromissfindung und die Gefahr der politischen Spielchen bleibt – agil ist das demokratische Unternehmen daher eher nicht.
Holakratie und Netzwerkorganisation – agil, aber wenig potenzialentfaltend
Theoretisch beruht Holakratie auf dem Konzept der Soziokratie, einer Organisationsform, in der Selbstorganisation sowie kollektive Verantwortung und Intelligenz tragende Säulen bilden. Sie beruht auf Partizipation und Entscheidungsfindung nach Konsent. Dies bedeutet, im Gegensatz zu Demokratie oder Konsens, dass bezüglich einer Entscheidung keine argumentierten Einwände bestehen dürfen. Holakratisch organisierte Unternehmen definieren dynamische Rollen anhand der Arbeit und nicht anhand der Person. Entscheidungen werden lokal getroffen, da Autorität stark dezentralisiert ist und Teams dadurch eigenverantwortlich und selbststeuernd arbeiten, ohne bürokratische und langwierige Entscheidungsprozesse abwarten zu müssen. Holakratie ist daher agiler als die vorangegangenen Organisationsmodelle, doch gleichzeitig birgt sie eine große intrinsische Komplexität mit zahlreichen Regeln und Ablaufplänen für Rollen und Zuständigkeiten. Mitarbeitern wird es in einem holakratischen System wahrscheinlich schwerfallen, ihre individuellen Potenziale entfalten zu können, da sie oft in neue operative Rollen schlüpfen müssen, sich nicht immer auf ihre Stärken fokussieren können, und die Kontrolle über die komplexen Prozesse und Vernetzungspunkte behalten müssen. Ebenfalls haben Mitarbeiter in der Holakratie keine Führungskraft zur Seite, die ihnen als Unterstützer, Coach und Gesprächspartner für die persönliche Entwicklung zur Verfügung steht. Individuelle Potenzialentfaltung spielt in diesem Betriebssystem keine wirkliche Rolle.
Netzwerkorganisationen definieren sich durch einen dezentralisierten Organisationsaufbau und hohe Interaktion und Kommunikation. Intensive Vernetzung ist das Leitprinzip einer solchen Struktur. Mitarbeiter können sich einfach und schnell verbinden, effektiv partnerschaftlich zusammenarbeiten sowie Informationen und Wissen effizient austauschen. Mitarbeiter mit unterschiedlichen Aufgabengebieten können sich ergänzen und in gemeinsamer Zusammenarbeit komplexe Herausforderungen lösen. Netzwerkorganisationen bieten eine höhere Agilität und Flexibilität und verstärken den internen Informationsaustausch. Die Organisation kann so schneller lernen, agieren und daher durch ihre Anpassungsfähigkeit Wettbewerbsvorteile erzielen. Allerdings kann sich die Koordination eines solchen Netzwerks als kompliziert und zeitaufwendig herausstellen. Auch der Kommunikationsaufwand kann um ein Vielfaches steigen. Die Gefahr einer Netzwerkorganisation besteht darin, Redundanzen durch Mehrfachbearbeitung zu entwickeln, also Situationen zu bewirken, in denen „die eine Hand nicht weiß, was die Andere macht“. So büßen Netzwerkorganisationen an Agilität sowie Effizienz ein, da sie viel Zeit auf Abstimmung, Rollenklärung und die Findung eines gesamtorganisationalen Fokus verwenden muss.
Zellenorganisation und Adaptives System – agil und leistungsfähigkeitsfördernd, aber auch effizient?
Die Grundidee der „Podular Organization“ oder Zellen-Organisation, ist das Entstehen sogenannter „Pods“, also frei arbeitenden, interfunktionalen und selbstverantwortlichen und -steuernden Einheiten, die eine eigene Organisation in der Gesamtorganisation darstellen. Diese „Pods“ können eigenständig arbeiten, eigene Prozesse entwickeln, autonom entscheiden und sich in größeren Netzwerken zusammenschließen. Die Zellen-Organisation bietet eine zentrale Plattform, die unterstützende Dienstleistungen tätigt, Standards und gemeinsame Prinzipien definiert, welche die Kollaboration innerhalb der Organisation regulieren. Der extreme Grad an Selbstorganisation bietet zum einen natürliche Vorteile, birgt allerdings die Gefahr vieler unkoordiniert und redundant arbeitender Teams. Um diese Gefahr zu bannen, müssen organisationale Prinzipien eindeutig und transparent sein. Die Plattform muss als regulierende Kraft großen Wert auf effiziente Kollaboration und Kommunikation zwischen den einzelnen „Pods“ legen. Die Zellenorganisation bietet daher eine hohe Agilität und ermöglicht es individuellen Mitarbeitern und Teams relativ autonom zu arbeiten, sich auf ihre Stärken zu fokussieren und ihre Potenziale zu entfalten. Ähnlich wie im holakratischen Modell wird jedoch, zumindest in den theoretischen Grundannahmen, den Kunden und Märkten keine Beachtung geschenkt.
Dies ändert sich im Adaptiven System, in dem Kunden auch in der Darstellungsweise der Organisationen einen Platz erhalten. Adaptive Strukturen sind ein von uns entwickeltes Konzept im Rahmen der Gesunden Organisation, welches die Vorteile verschiedener Organisationsformen kombiniert und deren Synergien nutzt. Die Idee einer zentralen Instanz und peripherer autonomer Teams baut auf den Ideen der Holakratie und der Zellen-Organisation auf und fördert die effiziente Agilität des Unternehmens – denn während periphere Teams in Kundennähe agil und flexibel arbeiten können, bietet die zentrale Plattform den nötigen Grad an Standardisierung und die wichtigsten normativen und technologischen Grundlagen für eine schnelle und vernetzte Zusammenarbeit. Gleichzeitig weisen adaptive Systeme ambidextere Eigenschaften auf: Teams und Mitarbeiter müssen nicht agil arbeiten, für manche Funktionen macht es Sinn, diese klassischer zu organisieren (z.B. Produktion oder Logistik), um die Effizienz des Geschäftsmodells zu fördern. So bauen adaptive Strukturen auf den verschiedenen zuvor beschriebenen Organisationsformen auf und ermöglichen zum einen organisationale Agilität und zum anderen eine bestmögliche Förderung der individuellen Leistungsfähigkeit durch Autonomie, Selbstführung, und dienstleistungsorientierte und kontextgestaltende Führung.
Abbildung 2: Bewertung verschiedener Organisationsdesigns nach Agilität, Effizienz und Potenzialentfaltung
Fazit:
Nicht alles was glänzt, ist Gold. Die neuen Organisationsdesigns bieten herausragende Möglichkeiten und stechen herkömmliche Organisationsformen in puncto Agilität klar aus. Aber: Teilweise vernachlässigen sie zum einen den Faktor ‚Effizienz‘ und zum anderen den Faktor ‚individuelle Leistungsfähigkeit‘. Effizienz ist auch in einem komplexen und dynamischen Marktumfeld wichtig, denn agile Organisationen können nur dann wirtschaftlich erfolgreich sein, wenn sie ihre Wertschöpfung möglichst effizient gestalten. Gleichzeitig sollten sie auf die individuelle Leistungsfähigkeit und Potenzialentfaltung achten, denn Mitarbeitern einfach nur Freiraum zu geben, überfordert. Daher sollten agile Organisationen dienstleistungsorientierte Führungsmodelle implementieren, die in der persönlichen Entwicklung aller Mitarbeiter essentiell sind. Doch leider bieten viele neue Organisationsdesigns keinen Hinweis auf die Gestaltung von Führung. Mit unseren ‚Adaptiven Strukturen‘ versuchen wir, ‚the best of both worlds‘ – also Effizienz und Agilität – zu vereinen und gleichzeitig durch balancierte Führung einen Rahmen zur individuellen Potenzialentfaltung zu bieten.
Details zu adaptiven Systemen und Balancierter Führung finden Sie in unserem Fachbuch „Führen in der Gesunden Organisation“. Außerdem empfehlen wir den GO-Check zur Verortung Ihres eigenen Organisationsdesigns – Sind Sie bereits agil genug?