Dieser Artikel ist der zweite Teil unserer Serie über verteilte Führung. Nach dem Blick auf die Führungskräfte stehen nun die Mitarbeitenden im Fokus: Wie erleben sie den Wandel von klassischen Hierarchien hin zu mehr Eigenverantwortung? Welche Chancen und Herausforderungen bringt das mit sich?
Wenn sich die Spielregeln ändern
„Am Anfang war ich skeptisch – plötzlich sollte ich Entscheidungen treffen, die früher mein Chef getroffen hat. Aber dann habe ich gemerkt: Ich kenne die Probleme unserer Kunden oft viel besser als er…“ Diese Worte von Lisa, Projektleiterin in einem IT-Dienstleistungsunternehmen, beschreiben treffend, was viele Mitarbeitende erleben, wenn verteilte Führung eingeführt wird.
Die Umstellung ist für Teams oft ein zweischneidiges Schwert: Einerseits die Chance auf mehr Gestaltungsfreiheit und Einfluss, andererseits die Unsicherheit, ob man den neuen Anforderungen gewachsen ist. Wie gehen Mitarbeitende mit diesem Wandel um? Drei Beispiele zeigen unterschiedliche Wege und Erfahrungen.
Praxisbeispiel 1: Lisa – von der Ausführenden zur Entscheiderin
Lisa arbeitet seit vier Jahren als Projektleiterin bei einem IT-Dienstleister. Früher lief jede größere Entscheidung über ihren Vorgesetzten Martin. Budgetfreigaben, Kundenabsprachen, Priorisierungen – alles wartete auf sein „Go“.
Als Martin ankündigte, mehr Verantwortung abzugeben, war Lisa zunächst verunsichert: „Ich dachte: Was, wenn ich die falsche Entscheidung treffe? Was, wenn der Kunde unzufrieden ist?“
Lisas Weg in die Eigenverantwortung:
- Kleine Schritte zuerst: Sie begann mit Entscheidungen über interne Prozesse – welche Tools das Team nutzt, wie Meetings strukturiert werden. „Das fühlte sich sicher an, weil die Konsequenzen überschaubar waren.“
- Tandem-Verantwortung: Bei größeren Kundenentscheidungen arbeitete sie zunächst im Tandem mit einem erfahrenen Kollegen. „Wir haben uns gegenseitig abgesichert und voneinander gelernt.“
- Reflexion als Routine: Nach jeder größeren Entscheidung führte Lisa kurze Nachbesprechungen mit Martin. „Nicht, um kontrolliert zu werden, sondern um zu verstehen: Was lief gut? Was würde ich anders machen?“
Heute, ein Jahr später, trifft Lisa eigenständig Entscheidungen bis zu einem Budget von 15.000 Euro und koordiniert direkt mit Kunden. „Ich bin viel näher am Problem dran als mein Chef – dadurch sind meine Lösungen oft passgenauer.“
Praxisbeispiel 2: Tom – der skeptische Entwickler
Tom, Senior-Entwickler in einem MedTech-Start-up, war von Anfang an skeptisch: „Ich will programmieren, nicht managen. Warum soll ich mich um Budgets und Termine kümmern?“
Seine Chefin Sarah hatte das Team-Meeting rotierend auf alle Mitglieder verteilt. Als Tom an der Reihe war, sträubte er sich: „Ich bin Entwickler, kein Moderator.“
Tom‘ s Wandel – langsam aber nachhaltig:
- Den eigenen Stil finden: Tom moderierte das Meeting nach seinen Regeln – technisch strukturiert, mit klaren Agenda-Punkten. „Ich habe gemerkt: Ich muss nicht Sarah kopieren, sondern kann meinen eigenen Stil entwickeln.“
- Fachliche Führung übernehmen: Er übernahm die Verantwortung für technische Architektur-Entscheidungen im Team. „Das war mein Ding – da konnte ich wirklich was beitragen.“
- Grenzen klar kommunizieren: Tom machte deutlich, dass er keine Personalverantwortung übernehmen will, aber gerne fachliche Entscheidungen trifft. „Sarah hat das akzeptiert und wir haben einen Weg gefunden, der für beide passt.“
Nach sechs Monaten ist Tom zum informellen Tech-Lead geworden. „Ich führe nicht im klassischen Sinne, aber die anderen kommen zu mir, wenn es um technische Richtungsentscheidungen geht. Das ist meine Form von Führung.“
Praxisbeispiel 3: Anna – die Überforderte
Anna, Marketing-Spezialistin in einem mittelständischen Beratungsunternehmen, hatte eine andere Erfahrung. Als ihr Chef Anna mehr Verantwortung übertragen wollte, fühlte sie sich überfordert.
„Ich hatte das Gefühl, er will sich nur die Arbeit vom Hals schaffen. Gleichzeitig hatte ich Angst, Fehler zu machen, für die ich dann verantwortlich bin.“
Anna‘ s Weg durch die Überforderung:
- Ehrliche Kommunikation: Anna sprach ihre Bedenken offen an. Ihr Chef reagierte mit einem strukturierten Einarbeitungsplan. „Er hat mir Zeit gegeben und nicht einfach alles auf einmal übertragen.“
- Kompetenzaufbau: Anna bekam Schulungen zu Budgetplanung und Projektmanagement. „Ich habe gemerkt: Ich brauche neue Fähigkeiten, um die Verantwortung wirklich übernehmen zu können.“
- Sicherheitsnetz vereinbaren: Für die ersten drei Monate blieb ihr Chef Ansprechpartner für kritische Entscheidungen. „Ich wusste: Im Notfall ist er da. Das hat mir die Angst genommen.“
Heute leitet Anna eigenständig Marketing-Kampagnen und koordiniert externe Dienstleister. „Die Einarbeitungszeit war entscheidend. Ohne die hätte ich schnell aufgegeben.“
Was Mitarbeitende wirklich brauchen, um Verantwortung zu übernehmen
Die drei Beispiele zeigen: Verteilte Führung funktioniert nicht automatisch. Mitarbeitende brauchen konkrete Unterstützung:
1. Klarheit über Erwartungen
„Was genau wird von mir erwartet? Wo sind meine Grenzen?“ Diese Fragen stehen am Anfang. Erfolgreiche Teams klären gemeinsam:
- Welche Entscheidungen können eigenständig getroffen werden?
- Bei welchen Themen ist Rücksprache nötig?
- Wie werden Fehler behandelt?
2. Kompetenzaufbau statt Überforderung
Neue Verantwortung erfordert oft neue Fähigkeiten. Erfolgreiche Unternehmen investieren in:
- Trainings zu Projektmanagement und Budgetierung
- Mentoring-Programme mit erfahrenen Kollegen
- Regelmäßige Reflexionsgespräche
3. Psychologische Sicherheit
„Darf ich Fehler machen?“ Diese Frage ist entscheidend. Teams, die verteilte Führung erfolgreich leben, haben eine Kultur entwickelt, in der:
- Fehler als Lernchancen gesehen werden
- Offene Kommunikation über Unsicherheiten möglich ist
- Unterstützung geholt werden kann, ohne als inkompetent zu gelten
4. Individuell angepasste Rollen
Nicht jeder will und muss gleich führen. Erfolgreiche Teams finden für jeden den passenden Platz:
- Fachliche Führung ohne Personalverantwortung
- Projekt-bezogene Verantwortung
- Rolle als Coach und Entwicklungsbegleiter*in
- Rotierende Rollen je nach Interesse und Stärken
Konkrete Tipps für Mitarbeitende
Für den Start:

Für die Entwicklung:

Fazit: Eigenverantwortung als Chance
Die Erfahrungen von Lisa, Tom und Anna zeigen: Verteilte Führung light ist für Mitarbeitende eine echte Chance – aber nur, wenn der Übergang gut begleitet wird. Es geht nicht darum, einfach mehr Aufgaben zu übernehmen, sondern wirklich Einfluss auf die eigene Arbeit zu gewinnen.
Erfolgreiche Teams schaffen es, eine Balance zu finden: Zwischen Eigenverantwortung und Sicherheit, zwischen individuellen Stärken und Teamzielen, zwischen Führung und fachlicher Exzellenz.
Der Schlüssel liegt nicht in perfekten Strukturen, sondern in der Bereitschaft aller Beteiligten, gemeinsam zu lernen und sich zu entwickeln. Wenn das gelingt, profitieren nicht nur die Teams – auch die einzelnen Mitarbeitenden erleben ihre Arbeit als sinnvoller und selbstwirksamer.
Im nächsten und abschließenden Artikel dieser Serie kommt die Geschäftsführung zu Wort: Welche Rahmenbedingungen sind nötig, damit verteilte Führung in der gesamten Organisation gelingt? Wie können Unternehmen den kulturellen Wandel strategisch begleiten?
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