Nach wie vor gibt es viele und intensive Diskussionen über die übergreifende Transformation, die sich seit längerem in der Wirtschaft abzeichnet. Die Bezeichnungen dessen, was nach dieser Transformation entsteht, sind vielfältig. So fand auch unter dem Schlagwort „Arbeiten 4.0“ ein Battle zwischen Winfried Felser und Simon Mamerow statt (ich habe das auch kommentiert). Die dadurch ausgelöste Diskussion zeigt die kontroverse Sicht sowie die Vielschichtigkeit und Komplexität der Thematik. Im Kern geht es immer wieder um die Frage, wie eine menschenzentrierte (humanistische) Wirtschaft aussehen kann und wie Organisationen (insbesondere Unternehmen) in einer post-hierarchischen (Netzwerk-) Ökonomie dann aussehen. Welches „Bauprinzip“ liegt Unternehmen denn zugrunde, wenn es nicht mehr nur ökonomische Zielgrößen (Umsatz/Gewinn/Wachstum) sind?
In diesem Zusammenhang fällt auch immer wieder der Begriff Empathie als Kernkompetenz von Führung oder eben vielleicht sogar als Kernkonzept einer neuen Ökonomie. Dem steht heute der weitgehend vorherrschende Narzissmus entgegen, der sowohl Basis als auch Folge des kapitalistischen Wachstumsparadigmas war und ist.
Das narzisstische Dilemma
Der Begriff „Narzisstisches Dilemma“ ist ein Fachbegriff aus der Psychoanalyse und Psychotherapie, der die Ambivalenz narzisstischer Eigenschaften beschreibt. Der Narzissmus bewegt sich dabei in einer Bandbreite von Ausprägungen. Zum einen ist es in einem bestimmten Maß eine notwendige Schlüsselkompetenzen (erfüllter Narzissmus, gesunde Selbstliebe), zum anderen aber kann es auch ein gestörter und exhibitionistischer Narzissmus im Sinne einer Persönlichkeitsstörung sein (Quelle 1). Umgekehrt kann dann natürlich auch ein defizitärer Narzissmus problematisch sein z.B. im Sinne von Minderwertigkeitsgefühlen. Im Grunde kann man also zu viel oder auch zu wenig Narzisst sein – oder eben in der Balance sein.
Narzisstische Neigungen in der Dysbalance – also jenseits der gesunden Selbstwertschätzung und Selbstliebe – führen zu vielen Störungen, die in Gesellschaft und Wirtschaft zu beobachten sind. Hans-Joachim Maaz beschreibt diese in seinem Gesellschaftspsychogramm „Die narzisstische Gesellschaft“ sehr treffend (Quelle 2). Das Buch macht klar, wo die Ursachen unserer gesellschaftlichen Probleme zu suchen sind, nämlich vor allem in einem Mangel an Liebe, Wertschätzung und Anerkennung, vor allem während der Kindheit. Zur Kompensation dieses Mangels bilden sich narzisstische Störungen in der Form des Größenselbst („zu viel“) bzw. des Größenklein („zu wenig“) heraus. Die Träger dieser beiden narzisstischen Störungen gehen dann in Beziehungen häufig Ko-Abhängigkeiten ein, sei es in der Partnerschaft oder in jeder anderen Form von Beziehung. In dem Buch nicht weiter thematisiert wird die Beziehung in Unternehmen, die aber Gegenstand dieses Beitrags sein soll. Hier zeigt die bisher übliche hierarchische Führungsbeziehung zwischen dem „VorGesetzten“ und dem „DahinterGesetzten“ auch deutlich narzisstische Züge. Dabei ist meist der „VorGesetzte“ das Größenselbst und der „DahinterGesetzte“ der Größenklein, aber es gibt interessanterweise auch umgekehrte Verhältnisse.
Narzissmus im Unternehmen
Warum ist das narzisstische Gleichgewicht für die Führung und Organisation in Unternehmen wichtig? Weil aus meiner Sicht hier in der üblichen organisatorischen Gestaltung von Unternehmen ein Denkfehler liegt. Dieser besteht darin, dass sich in vielen Unternehmen inkongruente Führungssituationen herausbilden und am Ende zur Verstärkung narzisstischer Verhaltenstendenzen führen.
Hier zeigt sich eine organisationale Form des narzisstischen Dilemmas: In den meisten Organisationen haben es Menschen mit starken narzisstischen Persönlichkeitseigenschaften leichter, in Führungspositionen zu gelangen. Das liegt an situativ funktionalen Verhaltensweisen des Narzissten (Quelle 3) in drei Kategorien:
- Ich/Selbst:
Der Narzisst hat eine ausgesprochen positive Selbstsicht, er hält sich für etwas Besonderes und Einzigartiges. Oft kommt Eitelkeit, Anspruchsdenken und ein Verlangen nach Macht und Ansehen hinzu. - Beziehungsebene:
Narzisstische Beziehungen zeichnen sich vor allem durch ein geringes Maß an Empathie und emotionaler Nähe aus. - Selbstregulation:
Narzisstische Strategien zur Erhaltung der überhöhten Selbstsicht sind zum Beispiel die Suche nach Möglichkeiten zur Anerkennung und Bewunderung, Angeberei oder das Spielen mit Beziehungen.
In einem gewissen Maße ist all dies durchaus hilfreich für den Erfolg. Viele Unternehmenskulturen fördern geradezu das oben beschriebene Verhalten. Besonders in sehr wettbewerbsorientierten und hierarchischen Kulturen zeigt sich immer wieder, dass mit einem gewissen Maß von ausgesprochener Selbstsicherheit, einer gewissen berechnenden Distanziertheit und ausgiebiger Prahlerei das eigene Vorankommen befördert wird.
All dies funktioniert aber nur, wenn zu jedem Größenselbst auch genügend Größenkleins kommen. Jeder Angeber braucht Zuhörer, jeder Eitle braucht Bewunderer. Doch diese Menschen gibt es ganz offensichtlich in großer Zahl – man muss auch zugeben, dass Menschen mit stark narzisstischen Zügen durchaus faszinierend sein können. Bewundern wir nicht alle bis zu einem gewissen Maße die Fähigkeit, auch mal rücksichtslos die Ellbogen einsetzen zu können? Und ist es eben nicht für manche Situationen auch notwendig, Dinge durchzusetzen? Auch gegen zahlreiche Widerstände und auf die Gefahr hin, Menschen vor den Kopf zu stoßen? So finden auf wundersame Art und Weise Größenselbst und Größenklein zusammen und arbeiten in symbiotischer Koexistenz – in vielen Fällen auch produktiv und effizient.
Hochmut kommt vor dem Fall
Es ist nun aber leider nicht so, dass Größenselbst und Größenklein auf Dauer in Koexistenz und Co-Abhängigkeit interagieren und ein stabiles Gleichgewicht entsteht. Der narzisstische Größenselbst strebt ja immer nach Fortkommen und Karriere und wird durch sein Umfeld („Ja-Sager“) auch noch in seinem überhöhten Selbstbild bestärkt. Da der Größenselbst nämlich bevorzugt Bewunderer um sich herum sammelt, baut er seinen eigenen Hofstaat, in dem – außer vielleicht dem Hofnarren – niemand Kritik üben darf.
Somit entfällt nach einiger Zeit die Regulation durch das Umfeld. Hat man erst einmal alle Kritiker aus seiner Anhängerschaft entfernt und nur noch Ja-Sager und Speichellecker um sich herum, wird man in seinem anfangs leicht überhöhten Selbstbild ja auch noch andauernd bestärkt. Somit entsteht ein „Sog“ nach oben, denn auf den höheren Ebenen sind ja bereits weiter entwickelte Größenselbsts, die ebenfalls nach Bewunderern suchen. Da Größenselbsts unglaublich gut in der Lage sind, mit Beziehungen zu spielen, setzt sich diese Kaskade nach ganz oben fort. Wer das Ende der Karriereleiter erklimmt, ist dann soweit abgehoben, dass er oft völlig den Bezug zur Realität verliert. Populäre Beispiele gibt es viele (Uli Hoeneß, Silvio Berlusconi, Martin Winterkorn, Sepp Blatter,…) und nicht wenige davon zeigen, wie tief dann der Absturz sein kann.
Häufig kommen dann zum Narzissmus auch noch Machiavellismus und Psychopathie hinzu, so dass man von der „Dunklen Triade der Macht“ spricht. Der Kollege Prof. Lutz Becker (Quelle 4) hat dies schon vor einigen Jahren in einem Blogbeitrag beschrieben. Der echte Kern des Problems ist für mich aber der latent vorhandene, weit verbreitete und gesellschaftlich akzeptierte Narzissmus.
Gibt’s da nicht irgendwas von Ratiopharm?
Doch was tun? Es scheint ein sich selbst verstärkender Mechanismus zu sein, der entsteht, weil der Schumpeter’sche Unternehmer ja auch schon durchaus etwas Narzisstisches oder vielleicht sogar leicht Psychopathisches an sich hat: Er soll kreativ zerstörend wirken, soll den Wunsch haben, ein eigenes Reich zu gründen, er soll Widerstände überwinden usw.. Die ewige Forderung nach dem unternehmerischen Denken klingt auch erst einmal gut, ist aber oftmals nur eine hohle Phrase. Denn wenn dann wirklich mal einer unternehmerisch denkt (also zerstörerisches Potenzial entwickelt durch Quer-Denken), dann wird das schnell unangenehm.
Hier liegt für mich nun der deutliche Bezug zu „Arbeiten 4.0“ oder „New Work“. Eine selbstbestimmte und sinnvolle Tätigkeit erfordert andere Parameter. Die narzisstische Unternehmenskultur mit ihrer starken Wettbewerbsorientierung, dem Command-and-Control-Denken und der Tendenz zum Group Thinking ist das, was New Work vielleicht am meisten entgegensteht. Denn so findet nur wenig oder keine Anpassung und Innovation statt. Der narzisstische Führungszirkel schottet sich nach außen ab und bekommt weder mit, was im eigenen Unternehmen passiert, noch was im Rest der Welt vor sich geht. Ich kann mir Dieselgate nach dem, was nun alles herauskommt (und wahrscheinlich noch herauskommen wird) nicht anders erklären.
Das empathische und reflektierte Unternehmen
Dieselgate (aber auch viele weitere Beispiele von narzisstischen Exzessen) sind krankhafte Auswüchse von Fehlentwicklungen, die auch am Ende nicht mit noch schärferer Compliance, etwa durch Überwachung, zu verhindern sind. Vielleicht ganz im Gegenteil! Das einzige Mittel ist aus meiner Sicht, sich selbst kontrollierende und beschränkende Organisations- und Führungsstrukturen zu schaffen und unauflösbar festzuschreiben (Checks and Balances). Dazu gehört dann z.B. auch die zeitliche Begrenzung oder die Abwählbarkeit von Führungspositionen. Es muss alles dafür getan werden, dass sich keine Machtzirkel etablieren und festsetzen, die dann im Elfenbeinturm an der Realität vorbeiregieren. Haufe umantis macht es mit der demokratischen Wahl der Führungskräfte vor, aber auch viele weitere Beispiele (Volksbank Heilbronn, W. L. Gore, Semco usw.) zeigen, dass gerade dieser Aspekt für New Work von großer Bedeutung ist.
Empathie als individuelles und kulturelles „Gegengewicht“ zum überhöhten Narzissmus halte ich dabei ebenfalls für entscheidend. Nur so kann dem wünschenswerten Führungsanspruch und -willen eine narzisstische Übertreibung genommen werden.
Ich bin aber ohnehin der Meinung, dass ein entscheidender Treiber sehr bald dazu führt, dass Unternehmen, die weiterhin auf die „dunkle Triade der Macht“ setzen, nicht mehr lange existieren werden: die digitale Transformation. Sie befeuert nämlich die Emanzipation der Mitarbeiter, im Moment vor allem der Wissens- und Kreativarbeiter, jedoch sicherlich bald auch der Facharbeiter. Folgende Faktoren sind hier zu nennen:
- Transparenz: Alles kommt früher oder später heraus!
Das Internet und die sozialen Medien bieten die Möglichkeit, jeden Missstand im Unternehmen in Sekunden und für alle öffentlich zu machen. Über den wahren inneren Zustand können Unternehmen nicht länger aufpolierte Pseudo-Botschaften senden. Der Mitarbeiter wird in Zukunft der wichtigste Markenbotschafter zumindest im Employer Branding sein! Oder wie Götz Werner (dm) es neulich auf den Punkt gebracht hat: „Der wichtigste Kunde ist der Mitarbeiter!“ - Vernetzung: Ich kann von überall (fast) jeden Job machen!
Auch gerade wieder in den Wissens- und Kreativberufen (Software-Entwicklung, Werbung etc.) lässt die Binde- und Haltekraft von Unternehmen deutlich nach, weil Mitarbeiter als Freelancer raum- und zeitunabhängig arbeiten können. Somit wird die Schwelle immer niedriger, ab der ein Unternehmen verlassen wird. Dies ist die einfachste und radikalste (dabei längst gelebte) Form der Unternehmensdemokratie: Die Abstimmung mit den Füßen! - Augenhöhe: Je weniger Führungskräfte über formale Macht und Wissensvorsprung führen können, desto stärker ist eine Führung auf Augenhöhe gefragt, in der Führung situativ übernommen wird, ohne dass dazu eine formale Autorisierung notwendig ist. Die „Führungskraft“ wird zum Coach, Moderator, Katalysator, Vermittler – ist also längst nicht mehr der Entscheider oder gar „Besserwisser“. Experten lassen sich nicht herumkommandieren!
Fazit
Diese drei Punkte scheinen mir sehr wichtig zu sein, wenn es um die Gestaltung einer neuen Arbeitswelt geht. Sie sind die Treiber für ein neues Organisationsprinzip von Unternehmen, in denen Empathie als Gegengewicht zum Narzissmus für eine gesunde Balance verschiedener Kräfte sorgt. Auf der einen Seite macht ein gesunder und ausgewogener Narzissmus (Selbstvertrauen, Selbstliebe, Zuversicht, Mut) Kräfte frei, um Neues anzupacken, Hindernisse zu überwinden und in schwierigen Situationen auch mal unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Auf der anderen Seite gewährleistet aber Empathie (Mitgefühl, Einfühlungsvermögen, Perspektivübernahme), dass dies alles in einem gesunden Maße auf Augenhöhe passiert, ohne dass andere Menschen oder Beziehungen schaden nehmen. Und so können Unternehmen entstehen, in denen der Mensch im Mittelpunkt steht.