Veränderte Anforderungen, sei es aus dem Kunden- oder Lieferantenumfeld oder im Personalbereich, bringen Unternehmen vermehrt dazu, ihre bestehende Organisationsform zu überdenken. Neue Organisationsformen finden Beachtung, wie bspw. das Konzept der responsiven Organisation.
Aus einem Interview von Rebecca Rupprecht (Hochschule Ludwigshafen) mit Ingo Kallenbach haben wir die interessantesten Aussagen für Sie zusammengestellt.
Rupprecht (Rup.): Responsiv liest man ja relativ selten und ich habe für mich persönlich Agilität und Responsivität schon abgegrenzt. Würden Sie es gegeneinander abgrenzen oder die Verbindung sehen?
Kallenbach (Kal.): Responsivität und Agilität haben schon einen verschiedenen Ursprung. Beide Begriffe haben zwar etwas mit „Anpassbarkeit“ zu tun, bei Responsivität geht es für mich aber eher um Anpassbarkeit an bestimmte Umstände. Und Agilität ist eher prozessbezogen.
Rup.: Ich kann Ihnen gerne sagen wie ich es für mich persönlich abgegrenzt habe. Ich habe Agilität eher auf die Ablauforganisation und Responsivität auf die Aufbauorganisation.
Kal.: Der Begriff der responsiven Organisation ist ein Oberbegriff. In einer responsiven Organisation können sehr unterschiedliche, nennen wir es „Betriebssysteme“, laufen. Dazu gehören holokratische oder soziokratische Organisationsformen, Zellenorganisation, Formen der Netzwerkorganisation und z.B. Organisationen, die agile Methoden wie „Scrum“ nutzen, s. Abbildung 1.
Abbildung 1: Reflect-Quadrant: Klassifizierung von Organisationsdesigns nach Anpassungs- und Leistungsfähigkeit
Ein Beispiel: Vielleicht kennen Sie das Unternehmen Buurtzorg in den Niederlanden, die Hebammenorganisation. Das ist ein sehr bekanntes Beispiel… Das Unternehmen war sehr rigide (statisch und streng) organisiert. Die Mitarbeiter hatten sich dann zusammengesetzt mit dem Wunsch, es anders zu machen. Jetzt sind sie dezentral organisiert und sie haben den Sinn des Unternehmens in den Mittelpunkt gestellt, den sie aus den Bedürfnissen ihrer Kunden ableiten. Die Mitarbeiterinnen sind sehr motiviert, diesen Sinn – und nicht die bisherigen rigiden Vorschriften – zu erfüllen, eben eine gute Arbeit zu machen. Das Unternehmen prosperiert und inzwischen sind 70-80% aller Hebammen (in den Niederlanden) bei Buurtzorg organisiert. Sehr erfolgreich und eben sehr responsiv.
Diese Organisation unterscheidet sich fundamental von beispielsweise holokratischen Organisationen. Holokratische Organisationen sind immer noch relativ streng hierarchisch. Sie sind zwar in Kreisen organisiert, aber es gibt einen Vorstand und dieser Vorstand äußert klare Erwartungen an seine sog. „Circles“. Und diese „Circles“ wiederum haben „Sub Circles“, die wiederum Erwartungen äußern. Es kann also auch in holokratischen oder soziokratischen Organisationsformen starke und klare Hierarchien geben. Es kommt eben auf die Organisationsform an.
Rup.: Also das schwierige finde ich mittlerweile, wenn man sich die Unternehmensumwelt anschaut, dass teilweise nichts richtig planbar ist. Also 10 Jahres- oder 5 Jahresstrategien werden extrem schwierig. Deshalb finde ich es schwierig, Ziele festzulegen und wenn, dann müssen diese ständig mit einem relativ hohen Arbeitsaufwand angepasst werden.
Kal.: Es ist gut, wenn man weiß, wohin die Reise gehen soll. Mitarbeiter haben den Wunsch, zu wissen: Wohin geht es? Wohin wollen wir?
Aber es wird zukünftig sicherlich noch wichtiger sein, (Antworten auf die folgenden Fragen zu bieten): Was ist der Sinn und Zweck (unseres Tuns)? Warum tun wir das? Und da muss es immer wieder Anpassungen geben. Menschen sind sehr unterschiedlich und ich glaube nicht, dass jede responsive Organisation für jeden Menschen geeignet ist.
Manche Menschen fühlen sich in klassisch hierarchischen Organisationen wohl und werden dies auch in Zukunft tun. Daher glaube ich an Vielfalt und nicht daran, dass es (zukünftig) nur eine Organisationsform geben wird.
Ich kann mir eher vorstellen, dass es so etwas wie ambidextere (beidhändige) Organisationsformen zunehmend häufiger geben wird. Also mehrere Organisationsformen innerhalb eines Unternehmens. Das gibt es bereits und wir arbeiten konkret mit Kunden daran. Das sieht bspw. so aus, dass die Produktion klassisch effizient durchorganisiert ist, mit Meister und Schichtführer und klaren Hierarchien. Auch inklusive teilautonomer Arbeitsgruppen. Und andere, eher freie und explorative Bereiche wie Marketing, Sales, Forschung und Entwicklung, sind in Netzwerken organisiert und hoch responsiv. So dass es innerhalb einer gesamten Organisation unterschiedliche Betriebssysteme gibt, so dass jeder Bereich so organisiert ist, wie es für diesen Bereich am besten passt, s. Abbildung 2.
Abbildung 2: Ambidextrie im REFLECT-Organisationsmodell
Ein gutes Beispiel ist das Unternehmen allsafe Jungfalk. Dort ist alles sehr transparent, die Mitarbeiter sind sehr gut informiert und kennen alle maßgeblichen Kennzahlen auf aktuellem Niveau, was zu einem ganz anderen Verständnis von Ressourcen und dem Umgang mit diesen führt. Es kommt zu Verantwortungsübernahme und Selbstverantwortung. Das unternehmerische Handeln wird gestärkt. Eine gute Voraussetzung für Responsivität.
Rup.: Gibt es Grenzen in der Unternehmensgröße (Konzern, Mittelsändlicher oder kleines Unternehmen), um eine Organisation responsiv zu gestalten?
Kal.: Sie können responsiv arbeiten, selbst wenn sie zu zweit sind. Oder im Mittelstand und in Großunternehmen. Aber Stand heute gibt es keine Großunternehmen, wo ich sagen würde, die sind tatsächlich responsiv.
Ein Beispiel, wo ich den Eindruck habe, dass das einer responsiven Organisation schon recht nahekommt, ist die dm Drogeriemarktkette. Die sind sehr dezentral aufgestellt. Sehr viele Informationen sind transparent. Und natürlich sehr kundenorientiert. Mitarbeiter haben letzten Endes sehr viel Selbstverantwortung. Sie können schnell auf Markterfordernisse selbstständig und ohne andere Entscheidungsträger zu fragen, reagieren. Also wenn jetzt das Shampoo in einem dm Markt nicht läuft, weil vielleicht der Nachbar Rossmann das Shampoo günstiger anbietet, dann kann der Filialleiter entscheiden: „gut dann machen wir das günstiger.“
Rup.: Wie kann ich denn eine bestehende Organisation, sagen wir in einer klassischen Hierarchie oder Matrix-Organisation, in eine responsive Organisation umgestalten?
Kal.: Erfahrungsgemäß wäre ich vorsichtig, hierarchische Organisationen auf Vorgabe von heute auf morgen umzustellen. Aus der Sicht als Organisationsentwickler kann ich das nicht empfehlen, da es mit Sicherheit mit großen Turbulenzen einhergehen würde und die Risiken nicht absehbar wären. Ich würde vielmehr im Rahmen eines „Assessment“ analysieren, wie die Organisation tickt. Wieviel Bereitschaft ist vorhanden im Sinne einer neuen responsiven Organisation? Wieviel Offenheit ist vorhanden in Bezug auf Transparenz? Wie sehen die Top Manager die Veränderung? Stehen sie dahinter? Oder eher nicht? Wären sie bereit, auch eine längere Zeit damit zu leben, wenn Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, da sie mit der einhergehenden Veränderung nicht klarkommen bzw. klarkommen wollen? Wären sie bereit, mit dem einhergehenden Verlust an Macht und Status zu leben? Und zwar nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig? Das heißt, sie bräuchten Zeit und Durchhaltevermögen, um Einverständnis zu haben von denjenigen, welche die Entscheidungsmacht haben. Ich würde deshalb mit einem Piloten beginnen. Mit einem Piloten in einem Bereich, in welchem das Top Management hinter der angestrebten Veränderung steht. Wo man sicher sein kann, dass diese die Veränderung mittragen werden.
Rup.: Wie ist das dann, wenn Führung wegfällt? Wie gehen die Führungskräfte damit um?
Kal.: Für Mitarbeiter kann es schwierig sein, Entscheidungen zu treffen, wenn sie es nicht gewohnt sind. Deshalb ist es ein zentraler Punkt, sich darüber klar zu werden, wer in Zukunft Entscheidungen trifft. Das kann der Rolleninhaber sein, wenn wir uns bspw. in einer holokratischen Organisation bewegen. Dort ist das sehr klar definiert. Aber weniger – und das ist einer der Kritikpunkte, die ich an Modellen wie der Holokratie habe – um den Menschen an sich. Ist der Mensch überhaupt in der Lage, mit seinen Kompetenzen Entscheidungen zu treffen? Es sind oft gut ausformulierte Modelle, aber der Mensch an sich, mit seiner Persönlichkeit, die Beziehungen zu anderen, die Kultur werden meist außen vorgelassen. Es gibt ein Programm (ein Betriebssystem), welches ein bestimmtes Vorgehen vorschreibt, aber wie es dem Menschen darin geht, darauf wird nur wenig Bezug genommen. Und wer bspw. in einem System groß geworden ist und darin 10 Jahre lang gelebt hat und gut damit gelebt hat, dass Entscheidungen für ihn bzw. sie getroffen wurden, dem wird es nicht von heute auf morgen leichtfallen, dass er oder sie das plötzlich anders machen soll. Das wird so leicht nicht funktionieren.
Und dem Manager geht es natürlich ganz genauso. Es wird mit Sicherheit Manager geben, die waren von sich aus vielleicht nicht besessen von Macht oder haben sich über Macht sehr stark definiert. Denen wird das deutlich einfacher fallen, aber es wird andere geben, die werden nur sehr schwer loslassen können.